Im Entscheid 4A_306/2019 vom 25. März 2020 befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob die Sacheinlage von Aktien einer venezolanischen Gesellschaft anlässlich der Gründung einer spanischen Gesellschaft als Investition im Sinne des Investitionsschutzabkommen von 1995 zwischen Spanien und Venezuela gelten könne.
Seit 1990 hatten die US-amerikanischen Gesellschaften C. und E. in Venezuela investiert. Bis 2011 wurden die Aktien der venezolanischen Gesellschaft D. direkt durch die C. gehalten. Die Beschwerdeführerin A. wurde 2011 in Spanien gegründet. Ihre Aktien werden direkt durch die C. gehalten. Die Liberierung erfolgte durch Sacheinlage sämtlicher Aktien der venezolanischen Gesellschaft D. Im Ergebnis wurden somit die Aktien der D. direkt durch die Beschwerdeführerin gehalten.
2015 reichte die Beschwerdeführerin gestützt auf das Investitionsschutzabkommen von 1995 zwischen Spanien und Venezuela eine Schiedsklage gegen den Staat Venezuela, den Beschwerdegegner, ein.
Der Beschwerdegegner bestritt die Zuständigkeit des Schiedsgerichts mit Sitz in Genf. Er vertrat die Meinung, dass das Halten der Aktien an D. keine gemäss dem Investitionsschutzabkommen geschützte Investition darstellen würde und dass die Beschwerdeführerin folglich nicht als Investorin im Sinne des Investitionsschutzabkommens gelten könne.
Aus Sicht des Schiedsgerichts war die entscheidende Frage, ob die Beschwerdeführerin die fragliche Investition getätigt hatte. Nach Auffassung des Schiedsgerichts setzte das Investitionsschutzabkommen einen «aktiven Investitionsakt» des Investors voraus. Dabei stützte sich das Schiedsgericht auf die in Art. I (2) des Investitionsschutzabkommens enthaltene Definition einer «Investition»:
The term ‘investments’ means any kind of assets invested by investors of one Contracting Party in the territory of the other Contracting Party and in particular, although not exclusively, the following assets:
-
a) Shares, securities, bonds and any other form of participation in companies […]
Nicht entscheidend war hingegen die Frage, ob es sich dabei um eine direkte oder indirekte Investition handelte. Das Schiedsgericht kam zum Schluss, dass bei der Sacheinlage der Aktien der D. in die neugegründete Beschwerdeführerin keine Wertübertragung («transfer of value») als Gegenleistung («consideration») der Beschwerdeführerin zugunsten der C. stattgefunden habe. Mangels Gegenleistung könne das Eigentum an sämtlichen Aktien der venezolanischen Gesellschaft D. nicht als Investition der Beschwerdeführerin im Sinne des Investitionsschutzabkommens qualifiziert werden.
Folglich erachtete sich das Schiedsgericht mit Schiedsspruch vom 20. Mai 2019 für unzuständig.
Die Beschwerdeführerin gelangte an das Bundesgericht und beantragte die Aufhebung des Schiedsspruchs sowie die Feststellung der Zuständigkeit des Schiedsgerichts. Gerügt wurde eine Verletzung von Art. 190 Abs. 2 Bst. b IPRG.
Das Bundesgericht erklärte, dass sich hinter der scheinbar «formaljuristischen» Auslegung des Schiedsgerichts, wonach die Anwendbarkeit des Investitionsschutzabkommens einen «aktiven Investitionsakt» des Investors bedürfe, eigentlich eine materiellrechtliche Überprüfung der Herkunft der investierten Gelder verberge. Für das Schiedsgericht sei der Umstand ausschlaggebend gewesen, dass die Beteiligung der US-amerikanischen C. an der venezolanischen D. auf die neugegründete spanische A. vermutlich in der Absicht übertragen wurde, den Schutz des Investitionsschutzabkommens beanspruchen zu können.
Weiter stellte das Bundesgericht fest, dass Art. I (2) des Investitionsschutzabkommens eine im Vergleich mit anderen Investitionsschutzabkommen klassische und zugleich breite Definition der «Investition» beinhalte. Entgegen anderen, teils älteren Investitionsschutzabkommen enthalte das relevante Investitionsschutzabkommen keine Bestimmung zur Vermeidung einer missbräuchlichen Beanspruchung des Investitionsschutzabkommens (sog. «treaty shopping»), wie etwa eine «denial of benefits clause» oder eine «origin of capital clause». Folglich sei davon auszugehen, dass für die Anwendbarkeit des fraglichen Investitionsschutzabkommens alleine die Nationalität des an der Investition Berechtigten entscheidend sei. Demnach habe das Schiedsgericht seine Zuständigkeit zu Unrecht verneint, indem es aufgrund von zusätzlichen, nach seinem Dafürhalten vorliegend nicht erfüllten Voraussetzungen abgestellt habe.
Das Bundesgericht fügte indes hinzu, dass die an einem Investitionsschutzabkommen beteiligten Staaten selbst bei Fehlen von Bestimmungen gegen «treaty shopping» keine missbräuchlichen Praktiken dulden müssten. Das Rechtsmissbrauchsverbot sei ein international anerkannter Grundsatz und bilde Teil des schweizerischen ordre public.
Im vorliegenden Kontext gelte es, die Grenze zwischen «legitimer Nationalitätserwerbsplanung» («legitimate nationality planning») und Abkommensmissbrauch («treaty abuse») zu ziehen. Dabei sei die zeitliche Komponente entscheidend. Wenn der Erwerb der Nationalität nach Beginn der Streitigkeit erfolge, erscheine die Frage eines möglichen Rechtsmissbrauchs irrelevant, da sich das Schiedsgericht unter solchen Umständen ratione temporis für unzuständig erklären werde. Hingegen sei anzunehmen, dass einem Investor der Schutz eines Investitionsschutzabkommens zu verweigern sei, wenn dieser ein Geschäft zum Erwerb der Nationalität in einem Zeitpunkt tätigt, in dem die Streitigkeit, die dem Schiedsverfahren zugrunde liegt, vorhersehbar («forseeable») war, und dieses Geschäft nach Treu und Glauben als im Hinblick auf diese Streitigkeit getätigt zu betrachten ist. Das Bundesgericht verzichtete ausdrücklich darauf, allgemeine Kriterien zur Vorhersehbarkeit einer Streitigkeit festzulegen und überliess es dem Schiedsgericht, diese Frage im Rahmen der vom Beschwerdegegner erhobene Rechtsmissbrauchseinrede zu prüfen.
Folglich hob das Bundesgericht den Schiedsspruch auf und wies die Sache an das Schiedsgericht zur Neuentscheidung über die Zuständigkeitsfrage zurück.
Verfasst von David Cuendet / Michael Feit