4A_180/2020: De lege lata keine Möglichkeit, Hauptverhandlungen in Zivilprozessen ohne Zustimmung der Parteien mittels Videokonferenzen durchzuführen (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht stellte in diesem Urteil klar, dass de lege lata Videokon­feren­zen in der ZPO nicht vorge­se­hen seien. Vielmehr set­ze die elek­tro­n­is­che Kom­mu­nika­tion mit den Parteien grund­sät­zlich deren Ein­ver­ständ­nis voraus. Die zivil­prozess­rechtliche Grund­lage für die Abnahme gewiss­er Beweise mit­tels Videokon­ferenz solle erst geschaf­fen wer­den und es gehe nicht an, dieser geset­zge­berischen Entwick­lung vorzu­greifen.

Hin­ter­grund bildete ein Ver­fahren vor dem Han­dels­gericht Zürich, in welchem die Beschw­erde­führerin die Durch­führung ein­er mündlichen Hauptver­hand­lung ver­langte, woraufhin die Parteien zur Hauptver­hand­lung vom 7. April 2020 vorge­laden wur­den. Zwei Wochen vor der Hauptver­hand­lung informierte das Gericht die Parteien darüber, dass die Ver­hand­lung im Rah­men ein­er Videokon­ferenz unter Ver­wen­dung der “Grati­s­app ‘ZOOM Cloud Meet­ings’ ” stat­tfind­en werde. Die Parteien wur­den aufge­fordert, die App auf ihren Mobil­tele­fo­nen zu instal­lieren, sich zu reg­istri­eren und dem Han­dels­gericht bis am 31. März 2020 schriftlich die Mobil­tele­fon­num­mern mitzuteilen. Bei Aus­bleiben dieser Mit­teilung werde “bezüglich der Hauptver­hand­lung” von Säum­nis aus­ge­gan­gen. Allfäl­lige Plä­doy­er­noti­zen seien zu Beginn der Ver­hand­lung per E‑Mail an den Gerichtss­chreiber, den Instruk­tion­srichter sowie die Gegen­partei zu senden. Am 30. März 2020 erk­lärte die Beschw­erde­führerin, mit der Durch­führung der Hauptver­hand­lung via Videokon­ferenz nicht ein­ver­standen zu sein und ersuchte um Absage und Ver­schiebung der Ver­hand­lung. Nach­dem das Gericht das Gesuch abwies, ersuchte die Beschw­erde­führerin am 6. April 2020 erneut um Vor­ladung zu ein­er geset­zeskon­for­men Durch­führung der mündlichen Hauptver­hand­lung. Am 7. April 2020 fand die Hauptver­hand­lung im Rah­men ein­er Videokon­ferenz statt, an welch­er die Beschw­erde­führerin nicht teil­nahm. In der Folge erg­ing das Urteil des Han­dels­gerichts, in welchem die Beschw­erde­führein vol­lum­fänglich unterlag.

Das Han­dels­gericht begrün­dete sein Vorge­hen mit der “gravieren­den Pan­demie-Not­lage”, deren Ende nicht abse­hbar sei, sowie der “zen­tralen Bedeu­tung ein­er weit­er­hin funk­tion­ieren­den Jus­tiz”. “Ana­log” zu Art. 1 Abs. 2 ZPO sowie Art. 52 ZPO könne es sich daher auf “Richter­recht” stützen und die Durch­führung ein­er Hauptver­hand­lung via Videokon­ferenz anord­nen. Die Zivil­prozess­rech­nung sehe denn auch die Aufze­ich­nung von Ver­hand­lun­gen mit­tels Video oder anderen geeigneten tech­nis­chen Hil­f­s­mit­teln aus­drück­lich vor. Sodann sei die ZPO “mit Blick auf die richter­rechtliche Lück­en­fül­lung” bewusst nach dem Grund­satz “Mut zur Lücke” konzip­iert wor­den, um “der Prax­is den nöti­gen Spiel­raum” zu ver­schaf­fen. Sodann sei die ger­ingfügige Ein­busse an Unmit­tel­barkeit unter den “vor­liegen­den pan­demis­chen Umstän­den” ver­hält­nis­mäs­sig. Entsprechen­des gelte auch “für allfäl­lige Sicher­heits­be­denken”. Namentlich die daten­schutzrechtlichen Ein­wäm­nde der Beschw­erde­führeri­nen seien nicht überzeu­gend, zumal gemäss Daten­schutzbeauf­tragtem die App “ZOOM Cloud Meet­ings” daten­schutzkon­form einge­set­zt wer­den könne. Dem Öffentlichkeits­grund­satz werde hin­re­ichend Rech­nung getra­gen, wenn akkred­i­tierten Medi­en­schaf­fend­en die Möglichkeit geboten werde, der Videoüber­tra­gung zu fol­gen. Schliesslich wies das Gericht auf die Schwierigkeit­en bei der Ter­min­find­ung hin, weshalb eine Ver­schiebung “von derzeit noch unbekan­nter Dauer” angesichts des Beschle­u­ni­gungs­ge­bots unver­hält­nis­mäs­sig sei (E. 2.2–2.3).

Das Bun­des­gericht ver­warf diese Erwä­gun­gen, hob das Urteil des Han­dels­gerichts auf und wies die Sache zur recht­skon­for­men Durch­führung der Hauptver­hand­lung und anschliessender neuer Entschei­dung zurück. Es wies darauf hin, dass die Parteien gemäss ZPO einen Anspruch auf recht­skon­forme Abhal­tung der Hauptver­hand­lung hätten, soweit die Parteien nicht gemein­sam auf eine solche verzicht­en wür­den (Art. 233 ZPO). Die ZPO konzip­iere die Hauptver­hand­lung dabei als mündliche Ver­hand­lung mit physis­ch­er Anwe­sen­heit der vorge­lade­nen Per­so­n­en und der Gerichtsmit­glieder am gle­ichen Ort (E. 3.2). Sodann habe der Geset­zge­ber beim Erlass der ZPO den elek­tro­n­is­chen Kom­mu­nika­tions­for­men Rech­nung getra­gen (E. 3.3). Dabei wies es ins­beson­dere unter Ver­weis auf die Botschaft zur ZPO aus­drück­lich darauf hin, dass der Geset­zge­ber die Möglichkeit­en für die Durch­führung ein­er mündlichen Vewrhand­lung mit­tels „Audio‑, Video- oder E‑Mail-Kon­ferenz“ bedacht, diese aber nicht in die ZPO aufgenom­men habe (E. 3.3.1). Weit­er ver­wies das Bun­des­gericht auf die derzeit­ig laufende Diskus­sion zur Revi­sion der ZPO, mit welch­er es ins­beson­dere ermöglicht wer­den soll, die Ein­ver­nahme von Zeu­gen, die Ersatt­tung von Gutacht­en sowie die Parteibefra­gun­gen und Beweisaus­sagen mit­tels Videokon­ferenz durchzuführen (E. 3.4). Eine Hauptver­hand­lung mit­tels Videokon­ferenz werfe, so das Bun­des­gericht weit­er, zahlre­iche rechtliche und prak­tis­che Fra­gen auf; dies jeden­falls dann, wenn alle Ver­fahrens­beteiligten – wie vor­liegend – “von ihrem jew­eili­gen Stan­dort aus über ihre Mobil­tele­fone” teil­nehmen sollen. Das Bun­des­gericht erwäh­nt dabei die Sich­er­stel­lung der Öffentlichkeit des Ver­fahrens (Art. 54 ZPO), die Wahrung der Per­sön­lichkeit­srechte der Beteiligten, die Beach­tung daten­schutz- und daten­sicher­heit­srechtlich­er Vor­gaben sowie säum­nis­rechtliche Fra­gen, wenn die Videokon­ferenz nicht zus­tande kommt oder die tech­nis­che Verbindung abbreche (oder, was davon nicht immer unter­schei­d­bar sein dürfte, von einem Teil­nehmer absichtlich abge­brochen würde). Zudem seien recht­shil­fer­echtliche Bes­tim­mungen einzuhal­ten, wenn sich eine Partei im Aus­land aufhalte (E. 3.5). Das Bun­des­gericht ging auf diese Punk­te nicht im Einzel­nen ein. Entschei­dend sei, so das Bun­des­gericht – dass die ZPO den Ein­satz tech­nis­ch­er Hil­f­s­mit­tel vorse­he und regle, wo dies der Geset­zge­ber als sin­nvoll erachtet habe. Sie biete dage­gen keine Hand­habe, eine Partei zur Teil­nahme an ein­er via Videokon­ferenz durchge­führten Hauptver­hand­lung zu verpflicht­en. Der geset­zge­berischen Entwick­lung könne nicht unter Hin­weis auf ein nicht näher bes­timmtes “Richter­recht” vorge­grif­f­en wer­den. Eben­so wür­den Schwierigkeit­en bei der Ter­min­find­ung oder das Beschle­u­ni­gungs­ge­bot nichts daran ändern (E. 3.6).

Schliesslich könne das Vorge­hen des Han­dels­gerichts nicht auf die “Pan­demie-Not­lage” gestützt wer­den. Die Verord­nung über den Still­stand der Fris­ten sei einge­hal­ten wor­den, da sich die Parteien mit der Durch­führung der Hauptver­hand­lung ein­ver­standen erk­lärt hät­ten (E. 4.2). Daneben sei die bun­desrätliche Verord­nung über Mass­nah­men im Ver­fahren­srecht, gemäss welch­er Ver­hand­lun­gen und Beweis­ab­nah­men unter bes­timmten Voraus­set­zun­gen mit­tels Videokon­ferenz durchge­führt wer­den kön­nten, am 20. April 2020 und damit nach der Hauptver­hand­lung vom 7. April 2020 in Kraft getreten (E. 4.3). Eben­so wenig komme „Richter­recht“ als Grund­lage für das Vorge­hen des Han­dels­gerichts in Betra­cht, da auch und ger­ade in ein­er ausseror­dentlichen Lage der Gesetz- und Verord­nungs­ge­ber die rechtlichen Voraus­set­zun­gen für oblig­a­torische elek­tro­n­is­che Kom­mu­nika­tion schaf­fen und präzisieren müsse. Angesichts der abschliessenden Regelung im Gesetz sei es nicht angezeigt, den prak­tis­chen Schwierigkeit­en mit “richter­rechtlich­er Lück­en­fül­lung” im Einzelfall zu begeg­nen (E. 5). Auf die von der Beschw­erde­führerin geäusserten Sicher­heits­be­denken hin­sichtlich der Benutzung der App “ZOOM Cloud Meet­ing” ging das Bun­des­gericht nicht ein (E. 6).