4A_424/2020: Krankentaggeldversicherung; Kündigung des Arbeitsverhältnisses vor Eintritt der Krankheit; Nachweis des Erwerbsausfalls; Beweislast und Beweismass (zur Publikation vorgesehen)

In einem zur Pub­lika­tion vorge­se­hen Entscheid vom 19. Jan­u­ar 2021 (4A_424/2020) befasste sich das Bun­des­gericht mit der Frage, welche Ver­mu­tung bei ein­er kollek­tiv­en Kranken­taggeld­ver­sicherung greift und wer die Beweis­last trägt, wenn die Krankheit während der Kündi­gungs­frist ein­tritt. Das Bun­des­gericht bestätigte und präzisierte seine jüng­ste Rechtssprechung (vgl. auch den swiss­blawg Beitrag vom 19. August 2020), gemäss welch­er die ver­sicherte Per­son in einem solchen Fall die Beweis­last trägt; die ver­sicherte Per­son muss daher mit über­wiegen­der Wahrschein­lichkeit nach­weisen, dass sie ohne Arbeit­sun­fähigkeit eine Erwerb­stätigkeit ausüben würde.


Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde: Der Ver­sicherte A (Kläger) arbeit­ete als Con­troller Sales Insur­ance bei der C AG (Arbeit­ge­berin), wobei sein Lohn über­durch­schnit­tlich hoch war. Er war in dieser Eigen­schaft bei der B AG (Ver­sicherin, Beklagte) kollek­tiv gegen die wirtschaftlichen Fol­gen krankheits­be­d­ingter Arbeit­sun­fähigkeit ver­sichert. Am 12. Feb­ru­ar 2018 kündigte die Arbeit­ge­berin das Arbeitsver­hält­nis unter Ein­hal­tung der ordentlichen Kündi­gungs­frist von sechs Monat­en per Ende August 2018. Mit Aufhe­bungsvere­in­barung vom 19. Feb­ru­ar 2018 wurde der Ver­sicherte mit Wirkung ab 1. April 2018 freigestellt, und die Arbeit­ge­berin verpflichtete sich unter anderem zur Zahlung eines Pauschal­be­trags von CHF 219’500 an den Ver­sicherten. Ab dem 27. Juli 2018 war der Ver­sicherte wegen soma­tis­ch­er und psy­chis­ch­er Beschw­er­den voll­ständig arbeit­sun­fähig. Nach Ablauf der ver­traglich vere­in­barten Warte­frist von 90 Tagen richtete die Ver­sicherin Taggelder aus. Für die Berech­nung des Taggel­danspruchs ging sie davon aus, dass die Ver­hält­nisse vor der Erkrankung mass­gebend seien, also die zuvor erfol­gte Kündi­gung mit Ver­lust der Stelle. Der Ver­sicherte wäre auch ohne Erkrankung arbeit­s­los gewor­den. Daher sei ihm ein Schaden in der Höhe der Taggelder der Arbeit­slosen­ver­sicherung ent­standen, näm­lich 70 % des max­i­mal arbeit­slosen­ver­sicherungsrechtlich ver­sicherten Jahres­lohns. Dage­gen stellte sich der Ver­sicherte auf den Stand­punkt, die Taggelder seien auf der Basis des bei der C AG ver­sicherten Ver­di­en­stes auszurichten.

In der Folge reichte der Ver­sicherte eine Teilk­lage gegen die Ver­sicherin beim Kan­ton­s­gericht Basel-Land­schaft, Abteilung Sozialver­sicherungsrecht, ein. Mit Urteil vom 10. März 2020 wies das Kan­ton­s­gericht die Klage ab. Der Einzel­richter erwog, dass es dem Ver­sichertem nicht gelun­gen sei, mit über­wiegen­der Wahrschein­lichkeit nachzuweisen, dass er auch nach Ende August 2018 erwerb­stätig gewe­sen wäre: Der Ver­sicherte habe keine weit­eren Stel­len­suchbe­mühun­gen nachgewiesen als die Kon­tak­te zu ein­er D GmbH. Die Anstel­lung bei dieser sei aber nicht über­wiegend wahrschein­lich. Dage­gen spreche ins­beson­dere, dass der Zeit­punkt des Arbeits­be­ginns und ins­beson­dere der Lohn noch nicht disku­tiert wor­den seien, obgle­ich der Ver­sicherte nach sein­er Kündi­gung und bis zum Ein­tritt der Arbeit­sun­fähigkeit mehrere Monate Zeit gehabt hätte, um die Anstel­lungs­be­din­gun­gen zu klären. Fern­er schulde die Ver­sicherin dem Verischerten nur dann ein über die Arbeit­slose­nentschädi­gung hin­aus­ge­hen­des Taggeld, wenn der Kläger umfang­mäs­sig auch die aus­ge­bliebene Lohn­höhe im Zusam­men­hang mit ein­er allfäl­li­gen Fol­gebeschäf­ti­gung mit über­wiegen­der Wahrschein­lichkeit nach­weisen kön­nte; diesen Nach­weis habe der Klägerin vor­liegend nicht erbracht. Gegen diesen Entscheid erhob der Ver­sicherte Beschw­erde beim Bun­des­gericht, welch­es die Beschw­erde abwies.


Zunächst rief das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zum Nach­weis des Erwer­baus­falls (BGE 141 III 214 sowie Urteil 4A_536/2019) in Erin­nerung (E. 3.2):

  • Beansprucht eine arbeit­slose Per­son, die keinen Anspruch auf Taggelder der Arbeit­slosen­ver­sicherung hat, Kranken­taggelder, so obliegt ihr der Beweis eines Erwerb­saus­falls. Die ver­sicherte Per­son hat mithin eine über­wiegende Wahrschein­lichkeit dafür nachzuweisen, dass sie ohne Krankheit eine Erwerb­stätigkeit ausüben würde. Dies gilt namentlich, wenn sie im Zeit­punkt ihrer Erkrankung bere­its arbeit­s­los war. War die ver­sicherte Per­son im Zeit­punkt ihrer Erkrankung noch nicht arbeit­s­los, so prof­i­tiert sie von der tat­säch­lichen Ver­mu­tung, dass sie ohne Krankheit erwerb­stätig wäre; die Ver­sicherung kann dies­bezüglich den Gegen­be­weis antreten, der sich gegen die Ver­mu­tungs­ba­sis oder die Ver­mu­tungs­folge richt­en kann.
  • Im zitierten, teil­weise (E. 5.1, 5.2.3 und 5.2.4) zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 4A_563/2019 (swiss­blawg Beitrag vom 19. August 2020) berief sich der Ver­sicherte auf die Ver­mu­tung der weit­eren Erwerb­stätigkeit in ein­er Sit­u­a­tion, wo — wie vor­liegend — die Arbeit­sun­fähigkeit einge­treten war, nach­dem die Kündi­gung aus­ge­sprochen wor­den war, das Arbeitsver­hält­nis aber noch andauerte. Dem fol­gte das Bun­des­gericht nicht und stellte fest, aus der Recht­sprechung ergebe sich vielmehr, dass der Zeit­punkt der Kündi­gung  mass­gebend sei für die Anwen­dung der Ver­mu­tung. Der Ver­sicherte könne sich somit (nur) auf die Ver­mu­tung der weit­eren Erwerb­stätigkeit berufen, wenn er arbeit­sun­fähig gewe­sen sei, bevor er durch Kündi­gung seine Arbeit ver­loren habe.

Das Bun­des­gericht kam zum Schluss, dass mit dem Urteil 4A_563/2019 die vor­liegende Frage ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Ver­sicherten beant­wortet wurde. Es han­delt sich auch nicht um ein obiter dic­tum. Das Bun­des­gericht konzedierte zwar, dass die nicht zur Pub­lika­tion vorge­se­hene Erwä­gung nicht weit­er begrün­det wurde und sich auch nicht ohne Weit­eres aus BGE 141 III 241 ergibt. Es erwog aber, dass man auch bei ein­er ver­tieften Begrün­dung zu keinem anderen Ergeb­nis kommt (E. 3.3):

  • Die in BGE 141 III 241 und im Urteil 4A_138/2013 wiedergegebene Prax­is ergibt sich aus der sozialver­sicherungsrechtlichen Recht­sprechung des Bun­des­gerichts zur frei­willi­gen Taggeld­ver­sicherung nach Art. 67 ff. KVG. Während in den dort zitierten sozialver­sicherungsrechtlichen Entschei­den nicht ein­deutig erwäh­nt wird, dass es auf den Kündi­gungszeit­punkt ankommt, wird im späteren zitierten Urteil 9C_24/2013 in Erwä­gung 4 unmissver­ständlich fest­ge­hal­ten, entschei­dend sei, dass die Kündi­gung im Zeit­punkt des Ein­tritts der Arbeit­sun­fähigkeit noch nicht aus­ge­sprochen wurde, das heisst, die Arbeit­sun­fähigkeit “in ungekündigter Stel­lung” eintrete.
  • Eine tat­säch­liche Ver­mu­tung beruht auf ein­er als durchge­set­zt gew­erteten Lebenser­fahrung. War jemand immer arbeit­stätig und erkrankt dann, woraufhin ihm nach Ablauf des Kündi­gungss­chutzes gekündigt wird, spricht die Erfahrung dafür, dass dieses Arbeitsver­hält­nis — wäre die Per­son nicht erkrankt — weit­erge­führt wor­den wäre. Die Ver­mu­tung indiziert also nicht bloss eine weit­ere Erwerb­stätigkeit im All­ge­meinen, son­dern eine solche im bish­eri­gen Arbeitsver­hält­nis zum bish­eri­gen Lohn. Nicht so, wenn die Krankheit bzw. die Arbeit­sun­fähigkeit ein­tritt, nach­dem die Kündi­gung erfol­gte: In diesem Fall ist offen­sichtlich, dass das bish­erige Arbeitsver­hält­nis auch ohne Erkrankung nicht weit­erge­führt wor­den wäre. Allen­falls spräche auch hier die Lebenser­fahrung dafür — vor allem, wenn die gekündigte Per­son stets erwerb­stätig war -, dass sie nach Wieder­erlan­gen der Arbeits­fähigkeit erneut erwerb­stätig sein würde. Dass dies zum gle­ichen Lohn der Fall sein würde, lässt sich indes nicht aus der Lebenser­fahrung ableiten.
  • Bei der Schadens­berech­nung im Haftpflichtrecht (vgl. BGE 131 III 360 E. 5.1 S. 363; 129 III 135 E. 2.2 S. 141; 116 II 295 E. 3a/aa S. 296 f.) kann dage­gen deshalb vom bish­eri­gen Einkom­men aus­ge­gan­gen wer­den, weil ohne die Schädi­gung kein Anlass bestanden hätte, dass der Geschädigte dieses Einkom­men nicht (jeden­falls kurzfristig) weit­er erzielt hätte, wäre er nicht geschädigt wor­den. Zu einem Bruch in der Arbeits­bi­ogra­phie, wie ihn vor­liegend die Kündi­gung bewirkt, kommt es in solchen Fällen nicht.

In diesem Fall ist das Beweis­mass der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit anwend­bar, was fol­gen­des bedeutet (E. 4.1 und 4.3):

Nach dem Beweis­mass der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit (“la vraisem­blance prépondérante”, “la verosimiglian­za pre­pon­der­ante”) gilt ein Beweis als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sach­be­haup­tung nach objek­tiv­en Gesicht­spunk­ten der­art gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeit­en vernün­ftiger­weise nicht mass­ge­blich in Betra­cht fall­en (…). Die Recht­sprechung ver­wen­det keine Prozentzahlen. Gemäss der Lehre genügt jeden­falls eine Wahrschein­lichkeit von 51 % nicht, son­dern es bedarf ein­er deut­lich höheren Wahrschein­lichkeit (…); genan­nt wird ein Wahrschein­lichkeits­grad von 75 % (…).
Der Beweis der über­wiegend wahrschein­lichen Auf­nahme ein­er Erwerb­stätigkeit ist mit konkreten Indizien zu führen. Solche kön­nen sich etwa aus dem Lebenslauf und Vorstel­lungs­ge­sprächen ergeben (…).

Im konkreten Fall erk­lärte das Bun­des­gericht, dass sich vor­liegend let­ztlich nur zwei Möglichkeit­en gegenüber­standen, da einzig hin­sichtlich ein­er Stelle bei der D GmbH eine konkrete Arbeitsmöglichkeit dar­ge­tan wurde: Entwed­er hätte der Ver­sicherte, wäre er nicht krank gewor­den, diese Stelle — allen­falls zu einem tief­er­en Lohn — ange­treten, oder er hätte nur mehr Anspruch auf Arbeit­slose­nentschädi­gung gehabt. Der Ver­sicherte machte vor Bun­des­gericht in diesem Sinn gel­tend, das ange­focht­ene Urteil impliziere die Hypothese ein­er durchge­hen­den Arbeit­slosigkeit während der gesamten Taggeldleis­tungs­dauer (730 Tage), ohne dass dies aber im Urteil aus­drück­lich ange­sprochen werde (E. 4.3.2). Gemäss Bun­des­gericht lag hierin in der Tat die Schwierigkeit im vor­liegen­den Fall: Da der Ver­sicherte bei der C AG einen (über­durch­schnit­tlichen) Lohn von CHF 219’500 erzielte, wäre er selb­st bei einem erhe­blich tief­er­en Lohn in sein­er neuen Anstel­lung deut­lich bess­er gestellt gewe­sen als mit der — wegen der Beschränkung des ver­sicherten Ver­di­en­stes — viel tief­er­en Arbeit­slose­nentschädi­gung von CHF 103’740. Das Bun­des­gericht befand deshalb, dass die Höhe des Lohnes hier nicht nur für die betragsmäs­sige Bes­tim­mung des Erwerb­saus­falls rel­e­vant ist, son­dern vor­erst für die Wahrschein­lichkeit des Stel­lenantritts selb­st.

Die Vorin­stanz erachtete den Stel­lenantritt grund­sät­zlich als nicht über­wiegend wahrschein­lich, weil der Ver­sicherte selb­st aus­ge­sagt habe, eine Lohnein­busse hätte er nicht in Kauf genom­men und eine angemessene Work-Life-Bal­ance wäre ihm wichtig gewe­sen, wobei die Anstel­lung aber ein “150–200%-Pensum” bedeutet hätte. Auch die Abgangsentschädi­gung von zwölf Monats­ge­häl­tern war nach Auf­fas­sung der Vorin­stanz ein Argu­ment, das gegen einen Stel­lenantritt sprach, weil der Ver­sicherte dadurch nicht (allein) auf die Arbeit­slose­nentschädi­gung angewiesen war. Das Bun­des­gericht ver­warf diese Beweiswürdi­gung u.a. mit der Begrün­dung, dass nach all­ge­mein­er Lebenser­fahrung nicht anzunehmen ist, dass ein Arbeit­nehmer auf mehrere zehn­tausend Franken Lohn verzichtet, weil er auf­grund der Abgangsentschädi­gung nach wie vor ein hohes Einkom­men erzielt. Trotz­dem erachtete das Bun­des­gericht die Beurteilung der Vorin­stanz im Ergeb­nis als nicht willkür­lich, da sie  auf­grund der Parteibefra­gung fest­stellte, dem Ver­sicherten sei der Lohn wichtig gewe­sen. Deshalb ist — so das Bun­des­gericht — nach all­ge­mein­er Lebenser­fahrung davon auszuge­hen, dass eine Gren­ze existierte für einen — im Ver­gle­ich zum bish­eri­gen Einkom­men — akzept­ablen Lohn, bei deren Unter­schre­it­en es der Ver­sicherte vorge­zo­gen hätte, nach weit­eren Stellen Auss­chau zu hal­ten. Zum Beweis der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit eines Stel­lenantritts bei der D GmbH hätte der Verischerte deshalb dar­legen müssen, welche unge­fähre Bezahlung ihm diese hätte anbi­eten kön­nen. Dies­bezüglich fehlten aber jegliche Angaben.