6B_358/2020: Freiheitsberaubung und Entführung sowie Amtsanmassung wegen unberechtigter Festnahme durch Security (amtl. Publ.)

Im Urteil 6B_358/2020 vom 7. Juli 2021 bestätigte das Bun­des­gericht die Erfül­lung der Straftatbestände der Frei­heits­ber­aubung und Ent­führung (Art. 183 Ziff. 1 StGB) sowie Amt­san­mas­sung (Art. 287 StGB) wegen unberechtigter Fes­t­nahme eines Ladendiebs durch den Beschw­erde­führer, dem Mitar­beit­er eines Sicher­heits­di­en­stes, der in einem Kaufhaus als Laden­de­tek­tiv tätig war.

Gemäss vorin­stan­zlichem Beweis­ergeb­nis hat­ten der Beschw­erde­führer und sein Mitar­beit­er den Geschädigten nach dessen Beobach­tung beim Dieb­stahl eines Par­fums ohne Vorankündi­gung auf dem Bahn­hof­platz in der Nähe des Kaufhaus­es über­wältigt. Kurz nach dem Zugriff hat­te der Beschw­erde­führer auf seinen um den Hals hän­gen­den Ausweis gezeigt. Der Beschw­erde­führer hat­te den Kopf des Ladendiebs zwis­chen seine Beine gek­lemmt und sein Mitar­beit­er diesem Hand­schellen angelegt. Mit auf dem Rück­en fix­ierten Hän­den und in gebück­ter Stel­lung hat­ten die Mitar­beit­er des Sicher­heits­di­en­stes den in fla­granti erwis­cht­en Ladendieb durch das Untergeschoss des Bahn­hofs zurück zum Kaufhaus geführt. Auf dem Weg dahin hat­ten sie ihm die Hand­schellen wieder abgenom­men. Im Sicher­heits­büro hat­te der Geschädigte eingewil­ligt, seinen Ruck­sack zu entleeren, woraufhin der Beschw­erde­führer eine gestoh­lene Par­fum­flasche fand. Der Vor­fall hat­te vom Ergreifen auf dem Bahn­hof­platz bis zum Ver­ständi­gen der Polizei (aus dem Sicher­heits­büro) knapp weniger als 10 Minuten gedauert (E. 2.2.2).

Den Tatbe­stand der Frei­heits­ber­aubung im Sinne von Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB erfüllt, wer jeman­den unrecht­mäs­sig fes­t­nimmt oder gefan­gen hält oder jeman­dem in ander­er Weise unrecht­mäs­sig die Frei­heit entzieht. Das geschützte Rechtsgut hier­bei ist die kör­per­liche Fort­be­we­gungs­frei­heit. Bei der Frei­heits­ber­aubung wird das Opfer unrecht­mäs­sig fest­ge­hal­ten (BGE 141 IV 10 E. 4.3). Nach dem Tatbe­stand wird nicht ver­langt, dass der Frei­heit­sentzug von langer Dauer ist. Einige Minuten genü­gen bere­its. Die Recht­sprechung bejaht den Frei­heit­sentzug bei der Fes­t­nahme ein­er auf frisch­er Tat ertappten verdächti­gen Per­son, sofern sie länger dauert als die Zeit, welche die Polizei bräuchte, um zum Ort des Geschehens zu gelan­gen. Ein län­geres Fes­thal­ten ist ille­gal (E. 2.3).

Dem Beschw­erde­führer war der Polizeiposten im Untergeschoss des Bahn­hofs bekan­nt gewe­sen; er gab an, sie seien nicht zum Polizeiposten gegan­gen, weil es nicht der Grundgedanke gewe­sen sei, dem Geschädigten Hand­schellen anzule­gen. Der Beschw­erde­führer wandte physis­che Gewalt an. Auch wenn die Erfül­lung des Tatbe­stands angesichts des hohen Strafrah­mens restrik­tiv anzuwen­den ist, durfte die Vorin­stanz nach dem Sachver­halt die Erhe­blichkeit der Frei­heits­ber­aubung annehmen. Der Beschw­erde­führer han­delte vorsät­zlich. Ihm war nach der vorin­stan­zlichen Fest­stel­lung bewusst, dass er mit seinem Vorge­hen seine Kom­pe­ten­zen mas­siv über­schrit­ten hat­te. Die Vorin­stanz bejahte gemäss Ansicht des Bun­des­gerichts den objek­tiv­en und sub­jek­tiv­en Sachver­halt somit zu Recht. Den vom Beschw­erde­führer vorge­bracht­en Recht­fer­ti­gungs­grund der irri­gen Annahme über eine objek­tive Recht­fer­ti­gungslage (Puta­tivrecht­fer­ti­gung) im Sinne von Art. 13 Abs. 1 StGB, näm­lich eines ger­ingfügi­gen Dieb­stahls über CHF 300.- (Art. 172ter StGB), lehnte das Bun­des­gericht ab (E. 4.1). Das Fes­t­nah­merecht Pri­vater ist enger als die Befug­nisse der Polizei. Es darf nur aus­geübt wer­den, wenn polizeiliche Hil­fe nicht rechtzeit­ig erlangt wer­den kann. Sie ist beschränkt auf Fälle, in denen eine Per­son in fla­granti ertappt oder unmit­tel­bar nach der Tat­bege­hung angetrof­fen wird. Schliesslich ist die Fes­t­nahme durch Pri­vate aus­geschlossen beim Ver­dacht auf eine blosse Übertre­tung. Bei Sach­w­erten unter Fr. 300.– beste­ht kein Fes­t­nah­merecht Pri­vater. Art. 218 Abs. 1 lit. a StPO set­zt voraus, dass die Per­son bei einem Ver­brechen oder Verge­hen auf frisch­er Tat ertappt oder unmit­tel­bar nach der Bege­hung ein­er solchen Tat angetrof­fen wurde. Wed­er waren vor­liegend Umstände dargelegt oder ersichtlich, die einen Ver­dacht auf ein “Verge­hen oder Ver­brechen” auch nur als möglich hät­ten hegen lassen, noch wurde bei der Fes­t­nahme ver­hält­nis­mäs­sige Gewalt angewen­det (Art. 218 Abs. 2 i.V.m. Art. 200 StPO), noch wurde der Geschädigte “so rasch als möglich” der Polizei übergeben, was ins­beson­dere erfordert hätte, die Polizei so rasch wie möglich zu informieren und die Per­son auf den näch­sten Polizeiposten zu brin­gen. Auch den Recht­fer­ti­gungs­grund des Irrtums über die Rechtswidrigkeit der Hand­lung wies das Bun­des­gericht im Sinne der Vorin­stanz auf­grund der rechtlichen Aus­bil­dung des Beschw­erde­führers zurück (E. 4.2). In diesem Sinne lehnte das Bun­des­gericht die Beschw­erde gegen die Verurteilung wegen Frei­heits­ber­aubung und Ent­führung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) ab.

Auch die Verurteilung wegen Amt­san­mas­sung im Sinne von Art. 287 StGB sei nach Ansicht des Bun­des­gerichts nicht zu bean­standen. Dage­gen hat­te der Beschw­erde­führer vorge­bracht, der Tatbe­stand der Amt­san­mas­sung sei nicht erfüllt, wenn Per­so­n­en hoheitliche Rechte wahrnäh­men, die gewöhn­lich lediglich Beamten, aber aus­nahm­sweise auch Pri­vat­per­so­n­en zustün­den. Dies sei beim Fes­t­nah­merecht durch Pri­vat­per­so­n­en im Sinne von Art. 218 StPO gegeben, sofern die geset­zlichen Voraus­set­zun­gen erfüllt seien, was hier zu beja­hen sei. Die Anmas­sung einzel­ner Befug­nisse eines Amtes sei nicht aus­re­ichend und set­ze ein zumin­d­est kon­klu­dentes Vorgeben, als Amtsin­hab­er zu han­deln, voraus (E. 3.1).

Die Vorin­stanz hat­te diesem Ein­wand ent­geg­net, indem der Beschw­erde­führer und seine Mitar­beit­er das Opfer aber festgenom­men, ihm Hand­schellen angelegt und ihn abge­führt hät­ten, ohne ihn schnell­st­möglich der Polizei zu übergeben, hät­ten sie Mass­nah­men getrof­fen, die auf­grund ihres hoheitlichen Charak­ters nur von staatlichen Polizeikräften ange­ord­net bzw. durchge­führt wer­den dürften. Damit erfülle der Beschw­erde­führer den objek­tiv­en Tatbe­stand der Amt­san­mas­sung. Er habe mit Wis­sen und Willen gehan­delt und mit seinem über­trieben harschen Vorge­hen mit unnöti­gen und unzuläs­si­gen Mit­teln in die Indi­vid­u­al­rechte des Geschädigten einge­grif­f­en und den sub­jek­tiv­en Tatbe­stand erfüllt (E. 3.2). Das Bun­des­gericht bestätigt diese Beurteilung. Der Beschw­erde­führer hat­te lediglich kurz seinen um den Hals hän­gen­den weis­sen Sicher­heits­di­en­stausweis während mehreren Sekun­den vorge­hal­ten. Die Vorin­stanz habe somit plau­si­bel angenom­men, dass der Geschädigte bei der Plöt­zlichkeit des Vor­falls den Ausweis nicht gese­hen und um den Grund der Fes­t­nahme nicht gewusst hat­te. Es leuchte ein, dass ein der­ar­tiges Vorhal­ten eines Ausweis­es nicht zur Erken­nt­nis reicht, es han­dle sich nicht um eine erfahrungs­gemäss polizeilich-hoheitliche, son­dern um eine nur sehr begren­zt aus­nahm­sweise über­haupt in Betra­cht kom­mende Fes­t­nahme durch Pri­vate. Der Geschädigte hat­te auf dem Bahn­hof­platz keinen Anlass für eine Fes­t­nahme geboten, weshalb er den Grund für die Fes­t­nahme nicht erkan­nte. Nach der Kon­klu­denz lag es auf der Hand, auf eine Fes­t­nahme durch nicht uni­formierte Polizeikräfte zu schliessen. Der Beschw­erde­führer hätte seine Funk­tion dem­nach sofort aktiv klarstellen müssen. Der Zugriff erweist sich nach Ansicht des Bun­des­gerichts deshalb als tatbe­standsmäs­sig im Sinne von Art. 287 StGB (E. 3.3). In diesem Sinne wies es sämtliche Beschw­er­den in diesem Fall ab. Der Beschw­erde­führer sah sich damit ein­er bed­ingten Geld­strafe von 270 Tagessätzen zu Fr. 80.– (Fr. 21’600.–) bei ein­er Probezeit von 2 Jahren konfrontiert.