4A_117/2021 (amtl. publiziert): Beweislast und ‑mass bei einer kollektiven Krankenzusatzverischerung nach VVG; Privatgutachten für die Beurteilung des Gesundheitszustandes des kollektiv versicherten Arbeitnehmers

In seinem zur Pub­lika­tion vorge­se­hen Urteil 4A_117/2021 vom 31. August 2021 befasste sich das Bun­des­gericht mit dem The­ma der Beweis­last und des Beweis­mass­es im Zusam­men­hang mit ein­er kollek­tiv­en Kranken­zusatzver­sicherung nach VVG und ins­beson­dere mit der Frage, ob die Vorin­stanz bei der Beurteilung der Gesund­heit des ver­sicherten Arbeit­nehmers im Zusam­men­hang mit ein­er behaupteten Arbeit­sun­fähigkeit, auf das Pri­vatgutacht­en des von der Ver­sicherin beige­zo­ge­nen Arztes anstatt auf die Ein­schätzung der behan­del­nden Ärzte abstellen durfte.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

A (Kläger, Arbeit­nehmer) arbeit­ete als Schrein­er bei der C GmbH (Arbeit­ge­berin). Diese hat­te bei der B AG (Beklagte, Ver­sicherin) eine kollek­tive Kranken­zusatzver­sicherung abgeschlossen. Die C GmbH meldete am 10. Juli 2018 der Ver­sicherin eine Arbeit­sun­fähigkeit des Arbeit­nehmers ab 14. Juni 2018 von vor­erst 100 % und in der Folge von 70 % wegen neu­rol­o­gis­ch­er Prob­leme in den Armen.

Am 20. Sep­tem­ber 2018 sprach die Ver­sicherin der C GmbH für den Beschw­erde­führer Taggeldleis­tun­gen für eine Arbeit­sun­fähigkeit von 100% vom 28. bis 29. Juni 2018 und für eine solche von 70% vom 30. Juni bis 23. Juli 2018 zu. In der Folge liess die Ver­sicherin den Arbeit­nehmer neu­rol­o­gisch unter­suchen und sprach der C GmbH Taggeldleis­tun­gen für den Arbeit­nehmer für eine Arbeit­sun­fähigkeit von 70% vom 24. Juli bis 3. Okto­ber 2018 und für eine solche von 60% vom 4. bis 31. Okto­ber 2018 zu. Mit Schreiben vom 28. Juni 2019 teilte die Ver­sicherin dem Arbeit­nehmer mit, dass ab 1. Novem­ber 2018 von ein­er voll­ständi­gen Arbeits­fähigkeit auszuge­hen sei, weshalb die Kranken­taggeldleis­tun­gen auf diesen Zeit­punkt eingestellt würden.

Am 29. Mai 2020 klagte der Arbeit­nehmer beim Sozialver­sicherungs­gericht des Kan­tons Zürich und beantragte, die Ver­sicherin sei zu verpflicht­en, ihm für die Zeit vom 1. Novem­ber 2018 bis 31. August 2019 für eine Arbeit­sun­fähigkeit von 60% und vom 1. Sep­tem­ber 2019 bis 31. März 2020 für eine solche von 50% Kranken­taggeldleis­tun­gen von ins­ge­samt CHF 39’943.31 neb­st Zins zu bezahlen. Mit Urteil vom 4. Jan­u­ar 2021 wies das Sozialver­sicherungs­gericht die Klage ab.

Die Vorin­stanz erwog, es liege am Arbeit­nehmer, mit dem Beweis­grad der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit zu beweisen, dass er vom 1. Novem­ber 2018 bis 31. August 2019 zu 60% arbeit­sun­fähig gewe­sen sei und vom 1. Sep­tem­ber 2019 bis 31. März 2020 zu 50%. Sie kam zum Schluss, dass die vom Arbeit­nehmer als Beweis­mit­tel beze­ich­neten Ein­schätzun­gen von Dr. med. E. und der Ärzte der Uni­ver­sität­sklinik X im fraglichen Zeitraum keine Arbeit­sun­fähigkeit beweisen. Vielmehr lasse das Pri­vatgutacht­en von Dr. med. D. erhe­bliche Zweifel an der Arbeit­sun­fähigkeit aufkom­men. Der Beweis des Arbeit­nehmers für eine Arbeit­sun­fähigkeit und einen Taggel­danspruch vom 1. Novem­ber 2018 bis 31. März 2020 sei gescheit­ert, weshalb die Klage abzuweisen sei (E. 3.1).

Gegen den Entscheid der Vorin­stanz erhob der Arbeit­nehmer Beschw­erde beim Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht wies die Beschw­erde ab, soweit es darauf eintrat.

Vor Bun­des­gericht bean­standete der Arbeit­nehmer die vorin­stan­zliche Sachver­halts­fest­stel­lung und rügte ins­beson­dere, dass die Vorin­stanz bei der Beurteilung sein­er Gesund­heit auf das Pri­vatgutacht­en von Dr. med. D. abstellte und nicht der Ein­schätzung der behan­del­nden Ärzte der Uni­ver­sität­sklinik X. fol­gte (E. 3).

Das Bun­des­gericht erachtete die Begrün­dung der Vorin­stanz als aus­führlich und sorgfältig und wies die Vor­brin­gen des Arbeit­nehmers zurück (E. 3.2 und 3.3).

Zunächst rief es seine kon­stante Recht­sprechung in Erin­nerung (E. 3.3.1):

  • Das Bun­des­gericht hat in seinem Leit­entscheid BGE 130 III 321 3.1 mit Bezug auf den Ver­sicherungsver­trag seine Recht­sprechung zum Beweis des Ein­tritts des Ver­sicherungs­falls wie fol­gt zusam­menge­fasst und präzisiert: Gemäss Art. 8 ZGB hat, wo es das Gesetz nicht anders bes­timmt, der­jenige das Vorhan­den­sein ein­er behaupteten Tat­sache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableit­et. Demgemäss hat die Partei, die einen Anspruch gel­tend macht, die rechts­be­grün­den­den Tat­sachen zu beweisen, während die Beweis­last für die recht­saufheben­den bzw. rechtsver­nich­t­en­den oder recht­shin­dern­den Tat­sachen bei der Partei liegt, die den Unter­gang des Anspruchs behauptet oder dessen Entste­hung oder Durch­set­zbarkeit bestre­it­et. Diese Grun­dregel kann durch abwe­ichende geset­zliche Beweis­lastvorschriften ver­drängt wer­den und ist im Einzelfall zu konkretisieren.
  • Nach der erwäh­n­ten Grun­dregel hat der Anspruchs­berechtigte – in der Regel der Ver­sicherungsnehmer, der ver­sicherte Dritte oder der Begün­stigte – die Tat­sachen zur “Begrün­dung des Ver­sicherungsanspruch­es” (Mar­gin­alie zu Art. 39 VVG) zu beweisen, also namentlich das Beste­hen eines Ver­sicherungsver­trags, den Ein­tritt des Ver­sicherungs­falls und den Umfang des Anspruchs. Den Ver­sicher­er trifft die Beweis­last für Tat­sachen, die ihn zu ein­er Kürzung oder Ver­weigerung der ver­traglichen Leis­tung berechti­gen oder die den Ver­sicherungsver­trag gegenüber dem Anspruchs­berechtigten unverbindlich machen. Anspruchs­berechtigter und Ver­sicher­er haben im Stre­it um ver­tragliche Leis­tun­gen je ihr eigenes Beweis­the­ma und hier­für je den Haupt­be­weis zu erbrin­gen. Dies trifft auch dann zu, wenn sich bei­de Beweis­the­men im gle­ichen Ver­fahren gegenüberstehen.
  • Der Beweis gilt als erbracht, wenn das Gericht nach objek­tiv­en Gesicht­spunk­ten von der Richtigkeit ein­er Sach­be­haup­tung überzeugt ist. Absolute Gewis­sheit kann dabei nicht ver­langt wer­den. Es genügt, wenn das Gericht am Vor­liegen der behaupteten Tat­sache keine ern­sthaften Zweifel mehr hat oder allen­falls verbleibende Zweifel als leicht erscheinen. Aus­nah­men von diesem Regel­be­weis­mass, in denen eine über­wiegende Wahrschein­lichkeit als aus­re­ichend betra­chtet wird, ergeben sich ein­er­seits aus dem Gesetz selb­st und sind ander­er­seits durch Recht­sprechung und Lehre her­aus­gear­beit­et wor­den. Den Aus­nah­men liegt die Über­legung zu Grunde, dass die Rechts­durch­set­zung nicht an Beweiss­chwierigkeit­en scheit­ern darf, die typ­is­cher­weise bei bes­timmten Sachver­hal­ten auftreten. Die Beweiser­le­ichterung set­zt dem­nach eine “Beweis­not” voraus. Diese Voraus­set­zung ist erfüllt, wenn ein strik­ter Beweis nach der Natur der Sache nicht möglich oder nicht zumut­bar ist, ins­beson­dere wenn die von der beweis­be­lasteten Partei behaupteten Tat­sachen nur mit­tel­bar durch Indizien bewiesen wer­den kön­nen. Eine Beweis­not liegt aber nicht schon darin begrün­det, dass eine Tat­sache, die ihrer Natur nach ohne weit­eres dem unmit­tel­baren Beweis zugänglich wäre, nicht bewiesen wer­den kann, weil der beweis­be­lasteten Partei die Beweis­mit­tel fehlen. Blosse Beweiss­chwierigkeit­en im konkreten Einzelfall kön­nen nicht zu ein­er Beweiser­le­ichterung führen.
  • Im Zusam­men­hang mit dem Ein­tritt des Ver­sicherungs­falls geht die Recht­sprechung davon aus, dass namentlich bei der Dieb­stahlver­sicherung in der Regel eine Beweis­not gegeben ist, so dass sich die Her­ab­set­zung des Beweis­mass­es recht­fer­tigt. Dies gilt hinge­gen nicht für eine behauptete Arbeit­sun­fähigkeit, welche ohne weit­eres mit einem entsprechen­den Zeug­nis bewiesen wer­den kann. Dies­bezüglich gilt das ordentliche Beweis­mass der vollen Überzeu­gung.

Das Bun­des­gericht kam zum Schluss, es sei nicht zu bean­standen, dass die Vorin­stanz die vom Pri­vatgutacht­en der Beschw­erdegeg­ner­in abwe­ichen­den Arztzeug­nisse seines behan­del­nden Arztes, Dr. med. E., nicht für überzeu­gend hielt und den Beweis der Arbeit­sun­fähigkeit damit als nicht erbracht erachtete (E. 3.3.2):

Die Vorin­stanz wies darauf hin, dass die Arztzeug­nisse keine nachvol­lziehbare Begrün­dung für die angegebene Arbeit­sun­fähigkeit enthiel­ten. Zusät­zlich berück­sichtigte sie, dass Dr. med. E. nur über einen Weit­er­bil­dungsti­tel als prak­tis­ch­er Arzt ver­fügt. Sie hielt überzeu­gend fest, dass es ihm an ein­er fachärztlichen Weit­er­bil­dung im Bere­ich Neu­rolo­gie fehlt. Er über­wies den Beschw­erde­führer denn auch wegen unklar­er Symp­tome zu ein­er neu­rol­o­gis­chen Untersuchung.

Fern­er befand das Bun­des­gericht, dass es auch nichts dage­gen einzuwen­den sei, dass die Vorin­stanz nicht auf die Beurteilung der behan­del­nden Ärzte der Uni­ver­sität­sklinik X. abstellte. Es sei ins­beson­dere nicht willkür­lich, wenn die Vorin­stanz darauf ver­weise, dass sich für die behauptete Diag­nose keine nachvol­lziehbare Begrün­dung find­et, weshalb die Vorin­stanz auch die Beurteilung der Arbeits­fähigkeit durch die behan­del­nden Ärzte der Uni­ver­sität­sklinik X. habe anzweifeln dür­fen; in der Tat fehle eine nachvol­lziehbare Begrün­dung (E. 3.3.3).