6B_1138/2020: Strafzumessung bei retrospektiver Konkurrenz

Im Urteil 6B_1138/2020 vom 2. Novem­ber 2021 bestätigte das Bun­des­gericht dessen Recht­sprechung zur Strafzumes­sung bei ret­ro­spek­tiv­er Konkur­renz nach dem Asper­a­tionsprinzip. Hin­ter­grund der Beschw­erde war ein Schuld­spruch des Krim­i­nal­gerichts Luzern vom 26. August 2016 wegen mehrfach­er unge­treuer Geschäfts­be­sorgung, mehrfachen gewerb­smäs­si­gen Betrugs sowie mehrfach­er Urkun­den­fälschung zu ein­er Frei­heitsstrafe von sechs Jahren.

Das Kan­ton­s­gericht Luzern hat­te die erstin­stan­zlichen Schuld­sprüche im Beru­fungsver­fahren mit Urteil vom 13. August 2020 bestätigt und den Beschuldigten mit ein­er Frei­heitsstrafe von vier Jahren und zwei Monat­en bestraft, als Zusatzs­trafe zu den davor gefäll­ten Urteilen des Strafgerichts Zug vom 12. Juli 2018 und des Kan­ton­s­gerichts Graubün­den vom 25. Feb­ru­ar 2019. Der Beschw­erde­führer rügte vor Bun­des­gericht, die Vorin­stanz sei bei der Bemes­sung der Zusatzs­trafe falsch vorge­gan­gen, da sie für die bere­its recht­skräftig beurteil­ten Straftat­en eine neue Strafzumes­sung vorgenom­men habe. Dies ver­stosse gegen die zu Art. 49 Abs. 2 StGB ergan­gene bun­des­gerichtliche Recht­sprechung und den Grund­satz “ne bis in idem” (Art. 11 StPO).

Hat das Gericht eine Tat zu beurteilen, die der Täter began­gen hat, bevor er wegen ein­er anderen Tat verurteilt wor­den ist, so bes­timmt es die Zusatzs­trafe in der Weise, dass der Täter nicht schw­er­er bestraft wird, als wenn die straf­baren Hand­lun­gen gle­ichzeit­ig beurteilt wor­den wären (Art. 49 Abs. 2 StGB). Diese Regel soll das in Art. 49 Abs. 1 StGB ver­ankerte Asper­a­tionsprinzip auch bei ret­ro­spek­tiv­er Konkur­renz gewährleis­ten. Der Täter, der mehrere gle­ichar­tige Strafen ver­wirkt hat, soll nach einem ein­heitlichen Prinzip der Straf­schär­fung beurteilt wer­den, unab­hängig davon, ob die Ver­fahren getren­nt durchge­führt wer­den, oder nicht (BGE 142 IV 265 E. 2.3.1). Liegen die Voraus­set­zun­gen für eine Zusatzs­trafe vor, so set­zt das Gericht zunächst eine hypo­thetis­che Gesamt­strafe fest, wobei es sich zu fra­gen hat, welche Strafe es bei gle­ichzeit­iger Beurteilung sämtlich­er Delik­te aus­ge­sprochen hätte. Der Richter hat dabei aus­nahm­sweise mit­tels Zahle­nangaben offen­zule­gen, wie sich die von ihm zugemessene Strafe quoten­mäs­sig zusam­menset­zt (E. 1.2.1).

Gemäss bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung erlaubt Art. 49 Abs. 2 StGB keine erneute Über­prü­fung der in Recht­skraft erwach­se­nen Strafe. Das Zweit­gericht darf im Rah­men der ret­ro­spek­tiv­en Konkur­renz die Grund­strafe nicht aufheben, son­dern muss die gedanklich zu bildende hypo­thetis­che Gesamt­strafe aus der recht­skräfti­gen Grund­strafe (für die abgeurteil­ten Tat­en) und der nach seinem freien Ermessen festzuset­zen­den Einzel­strafen (für die neuen Tat­en) bilden. Das Ermessen beschränkt sich somit auf die Asper­a­tion zwis­chen Grund­strafe und Zusatzs­trafe. Bei der Zusatzs­trafen­bil­dung hat das Zweit­gericht die recht­skräftige Grund­strafe und die neu auszus­prechen­den Strafen nach den Grund­sätzen von Art. 49 Abs. 1 StGB zu schär­fen. Ist die (abstrakt) schw­er­ste Straftat in der Grund­strafe enthal­ten, ist die Grund­strafe wegen der Einzel­strafen der neu zu beurteilen­den Delik­te angemessen zu erhöhen. Anschliessend ist von der (gedanklich) gebilde­ten Gesamt­strafe die Grund­strafe abzuziehen, was die Zusatzs­trafe ergibt (E. 1.2.2).

Indem die Vorin­stanz vor­liegend für sämtliche Straftat­en eine neue Strafzumes­sung vor­nahm, ver­stiess sie gegen diese Recht­sprechung. Die Vorin­stanz hätte sich darauf beschränken müssen, die Grund­strafe gemäss Urteil des Kan­ton­s­gerichts Graubün­den anhand der Einzel­strafen für die neu zu beurteilen­den Delik­te angemessen zu erhöhen. Von dieser hypo­thetis­chen Gesamt­strafe wären die bere­its recht­skräfti­gen Strafen gemäss den Urteilen des Strafgerichts Zug und des Kan­ton­s­gerichts Graubün­den in Abzug zu brin­gen gewe­sen (E. 1.3.1).