Im Urteil 6B_727/2020 sprach das Bundesgericht einen Hausarzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei, nachdem dessen Patientin aufgrund der Einnahme eines durch ihn verschriebenen Medikaments an den Folgen eines anaphylaktischen Schocks verstorben war. Die Erben warfen dem Arzt die Verletzung seiner Sorgfaltspflicht vor, da er hätte wissen müssen, dass Cefuroxim bei einer Penicillinallergie nicht verschrieben werden dürfe.
Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung im Sinne von Art. 117 StGB setzt voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht bzw. durch pflichtwidriges Unterlassen (Art. 11 StGB) verursacht hat. Voraussetzung ist in diesem Fall eine Rechtspflicht zur Vornahme der unterlassenen Handlung (Garantenstellung) sowie die Möglichkeit, diese Handlung vorzunehmen (E. 2.3.2). Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts richten sich die Sorgfaltspflichten des Arztes nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich nach der Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, dem Beurteilungs- und Bewertungsspielraum, sowie den Mitteln und der Dringlichkeit der medizinischen Massnahme. Der Arzt hat die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt anzuwenden. Er hat indes nicht für jene Gefahren und Risiken einzustehen, die immanent mit jeder ärztlichen Handlung und auch mit der Krankheit an sich verbunden sind. Zudem steht dem Arzt sowohl in der Diagnose als auch in der Bestimmung therapeutischer oder anderer Massnahmen oftmals ein gewisser Entscheidungsspielraum zu. Der Arzt verletzt seine Sorgfaltspflicht nur dort, wo er eine Diagnose stellt bzw. eine Therapie oder ein sonstiges Vorgehen wählt, das nach allgemeinem fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und daher den objektivierten Anforderungen der ärztlichen Kunst nicht genügt (E. 2.3.4).
Üblicherweise verlangt die ärztliche Sorgfalt die Durchführung einer Anamnese. Diese Angaben sind allenfalls durch Hinweise auf Krankheiten in der Familie zu ergänzen. Was medizinisch geboten war, muss im Streitfall der sachverständige Gutachter feststellen. Zur Durchführung der Heilbehandlung ist in der Regel die Mitwirkung des Patienten erforderlich, wobei es sich jedoch um eine blosse Obliegenheit handelt. Wirkt der Patient bei der Behandlung nicht mit, braucht der Arzt nicht tätig zu werden. Nach der Untersuchung und der Diagnose muss der Arzt auch die Indikation für eine bestimmte Heilbehandlung oder diagnostische Untersuchung stellen. Der Arzt hat die im Einzelfall richtige Therapie zu wählen und darauf zu achten, dass keine Unverträglichkeiten (Kontraindikation) bestehen. Häufige Fehler bei der Festlegung der Therapie betreffen die falsche Wahl von Medikamenten bzw. deren (unverträgliche) Kombination. Entscheidend kommt es dabei darauf an, ob die Kontraindikation im Zeitpunkt der Applikation erkennbar war oder nicht (E. 2.4.2).
Ein Arzneimittel darf nur verschrieben werden, wenn der Gesundheitszustand des Patienten bekannt ist (Art. 26 Abs. 2 HMG). Gemäss Lehre folgt die Verschreibung dem Erstellen der therapeutischen Vereinbarung und wird der individuellen Situation des Patienten angepasst. Dessen Vitaldaten, Gesundheitszustand, Allergien, Arzneimittelunverträglichkeiten sowie das Interaktionspotential des verschriebenen Medikaments mit anderen Wirkstoffen müssen dem Arzt bekannt sein. Die Abgabe des Heilmittels an den Konsumenten soll erst nach zweifacher Kontrolle durch Fachpersonen in Anwendung ihrer jeweiligen anerkannten Wissenschaften erfolgen. Der Apotheker hat dabei grundsätzlich nach den Vorgaben der ärztlichen Verschreibung zu handeln. Art. 26 Abs. 1 HMG sieht aber vor, dass er die ärztliche Verschreibung kontrollieren und allfällige Unstimmigkeiten in Rücksprache mit dem verschreibenden Arzt bereinigen muss (E. 2.4.1).
Aus den zum Verschreibungszeitpunkt vorhandenen Informationen ergaben sich dem Arzt im vorliegenden Fall keine Hinweise auf ein erhöhtes Risiko des verordneten Cefuroxim und es bestand für ihn auch kein Anlass, an den Angaben seiner Patientin, wonach keine Antibiotika-Allergie bestand, zu zweifeln (E. 2.7.3). Der Arzt hatte pflichtgemäss eine Erstanamnese vorgenommen und die Patientin aufgefordert, ihm die früheren medizinischen Akten zu bringen. Als diese ausblieben, hatte er bei einer späteren Konsultation nochmals nachgehakt und seine Patientin gebeten, ihm die Unterlagen “dringend” nachzureichen. Damit war der Arzt seiner ärztlichen Sorgfaltspflicht hinreichend nachgekommen (E. 2.4.3, E. 2.8). In diesem Sinne sprach ihn das Bundesgericht vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei (E. 2.9).