Im zur amtlichen Publikation vorgesehenen und für weitere Windenergieprojekte wohl wegweisenden Urteil vom 24. November 2021 beurteilte das BGer die Rechtsmässigkeit von sechs Windenergieanlagen auf dem Grenchenberg. Im Jahr 2014 beschloss der Gemeinderat der Stadt Grenchen die Planung “Projekt Windpark Grenchen” und deren öffentliche Auflage. Dagegen erhoben unter anderem der Schweizer Vogelschutz SVS/BirdLife Schweiz und der Vogelschutzverband des Kantons Solothurn Einsprache, welche vom Gemeinderat der Stadt Grenchen abgewiesen wurde. Sowohl der Regierungsrat als auch das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn beurteilten entsprechende Beschwerden abschlägig. Das BGer hingegen heisst die Beschwerde des Schweizer Vogelschutzes SVS/BirdLife Schweiz und des Vogelschutzverbands des Kantons Solothurn teilweise gut.
Eine zentrale Stellung im Urteil des BGer nimmt der Wanderfalke ein, welcher gemäss Roter Liste potentiell gefährdet ist (NT = Near Threatened), nationale Priorität geniesst (NP2) und nach Art. 20 Abs. 2 NHV (Verordnung über den Natur- und Heimatschutz; SR451.1) geschützt ist. Die Schweizerische Vogelwarte empfiehlt, dass Windenergieanlagen einen minimalen Abstand von 3’000.00 m vom Horst der Wanderfalken aufzuweisen haben. Diese Empfehlung — so das BGer — wird im vorliegenden Fall nicht vollumfänglich berücksichtigt:
Aufgrund der von der Schweizerischen Vogelwarte schlüssig dargelegten erheblichen Gefährdung der in der Wandfluh brütenden Wanderfalken stellt sich die Frage, ob auf gewisse WEA-Standorte verzichtet werden muss, um einen ausreichenden Abstand einzuhalten. Alle geplanten WEA liegen in weniger als 3000 m Abstand vom Wanderfalkenhorst, d.h. würde ein Mindestabstand von 3000 m verlangt, könnte der gesamte Windpark nicht genehmigt werden. Im Umkreis von 1000 m um den Horst liegen die WEA 3 (Abstand ca. 350 m), WEA 2 (ca. 700 m) und WEA 1 (ca. 950 m). Muss auf diese Standorte zum Schutz des Wanderfalken (ganz oder teilweise) verzichtet werden, so hat dies erhebliche Auswirkungen auf die Stromproduktion. Insofern kann darüber nur im Rahmen der Gesamtinteressenabwägung entschieden werden. (Erw. 11.5)
Das BGer schreibt dem Ausbau erneuerbarer Energien vor dem Hintergrund des Klimawandels, welcher eine akute und irreversible Bedrohung für menschliche Gesellschaften und den Planeten darstelle, eine herausragende Bedeutung zu. Gleichzeitig misst das BGer auch dem Schutz der Biodiversität ein erhebliches Interesse bei, denn die biologische Vielfalt und die Leistungen von Ökosystemen wie Nahrung, sauberes Wasser und Medizin seien für das Überleben der Menschheit essenziell. Ziel der Interessenabwägung — so das BGer — ist es, das Projekt so zu optimieren, dass alle Interessen möglichst umfassend berücksichtigt werden. Zwar könne es bei Unvereinbarkeiten dazu kommen, dass ein Interesse bevorzugt und das andere zurückgestellt werde. Anzustreben sei jedoch eine ausgewogene Lösung, die den beteiligten Interessen ein Maximum an Geltung eintrage und ein Minimum an Wirkungsverzicht aufnötige.
Für die Windenergienutzung ist somit anzustreben, die Anlagen so zu erstellen und zu betreiben, dass das Risiko von Kollisionen und Lebensraumstörungen auf ein für den Biotop- und Artenschutz verträgliches Mass herabgesetzt wird und die verbleibenden Beeinträchtigungen durch Ersatzmassnehmen kompensiert werden, ohne die Nutzung der erneuerbaren Windenergie zu verunmöglichen. (Erw. 13.5.)
Das BGer kommt zum Schluss, dass die Standorte der Windenergieanlagen 2 und 3 den Mindestabstand zum Wanderfalkenhorst von 1’000.00 m mit 350.00 m respektive 700.00 m deutlich unterschritten. Dieser Mindestabstand werde von der Vogelwarte Sempach als unterste, aus Sicht des Vogelschutzes noch vertretbare Grenze qualifiziert. Die Standorte 2 und 3 könnten deshalb nicht bewilligt werden. Die verbleibenden Standorte hingegen hielten den Mindestabstand ein beziehungsweise unterschritten ihn nur geringfügig und seien deshalb nicht zu beanstanden.