Im Urteil 6B_1498/2020 vom 29. November 2021 entschied das Bundesgericht, dass eine Anschlussberufung, die einzig erhoben wird, um Druck auf den Beschuldigten auszuüben bzw. um einen Rückzug der Berufung zu erreichen, unzulässig ist und gegen Treu und Glauben verstösst. Hintergrund war ein Schuldspruch des Regionalgerichts Berner Jura-Seeland wegen Vergewaltigung, einfacher Körperverletzung, Nötigung und Drohung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren, in dessen Folge die Staatsanwaltschaft auf Berufung des Beschuldigten hin Anschlussberufung erklärte.
Grundsätzlich ist für eine Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft kein Nachweis eines rechtlich geschützten Interesses erforderlich (vgl. Art. 381 Abs. 1 StPO; E. 4.4.1). Die Erhebung einer Anschlussberufung setzt per definitionem jedoch voraus, dass der Betroffene gerade auf die Erhebung einer Hauptberufung verzichtet hat und sich daher mit dem Urteil zumindest in dem in der Anschlussberufung angesprochenen Punkt abgefunden hat. Die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft birgt in diesem Zusammenhang die Gefahr, dass sie hauptsächlich als Mittel zur Einschüchterung des Angeklagten eingesetzt werden kann und somit eine potenzielle Quelle für den Missbrauch der Strafverfolgung darstellt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Staatsanwaltschaft die Anschlussberufung einzig und allein mit dem Ziel erhebt, die Anwendung des Verbots der reformatio in peius zum Nachteil des Beschuldigten, der die Hauptberufung eingelegt hat, zu verhindern (vgl. Art. 391 Abs. 2 Satz 1 a contrario StPO) und diesen indirekt dazu zu bewegen, die Berufung zurückzuziehen (E. 4.4.2).
Der Gesetzgeber hat die Anschlussberufung eingeführt (vgl. Art. 401 StPO) und die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, in diesem Fall an der Hauptverhandlung teilzunehmen (vgl. Art. 405 Abs. 3 Bst. b StPO), um die in der Praxis häufig vorkommenden Fälle zu reduzieren, in denen die Anschlussberufung eingelegt wurde, um den Beschuldigten zum Rückzug seiner Hauptberufung zu bewegen. Auch wenn der Gesetzgeber sich des Missbrauchspotenzials der Anschlussberufung bewusst war, bleibt es der Staatsanwaltschaft unbenommen, nach jeder Hauptberufung eines Beschuldigten eine Anschlussberufung einzulegen, ohne dass ein Erscheinen zur Verhandlung eine wirklich abschreckende Wirkung hätte. Dies ist jedoch nicht zulässig, wenn der einzige und ausschliessliche Zweck der Anschlussberufung darin besteht, Druck auf den Angeklagten auszuüben. Eine angemessene und vernünftige Erhebung der Anschlussberufung bedeutet nämlich, dass die Staatsanwaltschaft, wenn ihr die in erster Instanz verhängte Strafe nicht gerecht erscheint, selbst eine Hauptberufung einlegen muss, die dann einen vollständigen Devolutiveffekt (d.h. Entscheidung durch eine höhere Instanz aufgrund der Einlegung eines Rechtsmittels) zur Folge hat (vgl. Art. Art. 398 Abs. 2 und 3 StPO), ohne dass das Schicksal ihrer Anträge davon abhängt, ob der Angeklagte seine Hauptberufung zurückzieht, wodurch die Anschlussberufung hinfällig würde (vgl. Art. 401 Abs. 3 StPO; E. 4.4.3).
Ausnahmsweise ist in diesem Sinne gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die Rechtsmittellegitimation der Staatsanwaltschaft also zu verneinen, wenn Indizien für ein treuwidriges Verhalten sprechen. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn eine Anschlussberufung ohne nähere Begründung und ohne Vorbringen neuer Tatsachen, wie von Art. 391 Abs. 2 StPO gefordert wird, einzig zur Strafhöhe eingereicht wird, obschon die erste Instanz den diesbezüglichen Anträgen vollumfänglich entsprochen hatte (E. 4.4.3).
Im vorliegenden Fall beantragte die Staatsanwaltschaft in der Anschlussberufung eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten, ohne dies näher zu begründen, obwohl sie vor erster Instanz eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren gefordert und diese auch erhalten hatte. Aufgrund dessen kam das Bundesgericht vorliegend zum Schluss, dass der Grundsatz des Verbots der “reformatio in peius” gemäss Art. 391 Abs. 2 StPO hätte gelten müssen, wonach eine Rechtsmittelinstanz Entscheide grundsätzlich nicht zum Nachteil des Verurteilten abändern darf, wenn das Rechtsmittel nur zu dessen Gunsten ergriffen wurde (E. 4.4.4).