6B_780/2021: Teilnahmerecht bei polizeilichen Einvernahmen (amtl. Publ.)

Im Urteil 6B_780/2021 vom 16. Dezem­ber 2021 befasste sich das Bun­des­gericht mit den Teil­nah­merecht­en des Beschuldigten bei Beweis­er­he­bun­gen. Hin­ter­grund war eine Beschw­erde, wonach gewisse polizeilichen Ein­ver­nah­men ent­ge­gen des Antrags des Beschuldigten als ver­w­ert­bar erk­lärt wor­den waren, obwohl dabei dessen Teil­nah­merechte mis­sachtet wor­den seien.

Gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO haben die Parteien das Recht, bei Beweis­er­he­bun­gen durch die Staat­san­waltschaft und die Gerichte anwe­send zu sein und ein­ver­nomme­nen Per­so­n­en Fra­gen zu stellen. Die Anwe­sen­heit der Vertei­di­gung bei polizeilichen Ein­ver­nah­men richtet sich nach Art. 159 StPO. Vor Eröff­nung ein­er Unter­suchung durch die Staat­san­waltschaft beste­ht der Anspruch auf Parteiöf­fentlichkeit nicht. Bei Beweis­er­he­bun­gen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Ein­ver­nah­men von Auskun­ftsper­so­n­en gestützt auf Art. 306 Abs. 2 lit. b StPO, sind die Parteien mit anderen Worten nicht zur Teil­nahme berechtigt (E. 1.2).

Die vor­liegend zur Diskus­sion ste­hen­den Ein­ver­nah­men fan­den im polizeilichen Ermit­tlungsver­fahren und nicht im Auf­trag der Staat­san­waltschaft statt. Entsprechend ver­let­zte die Abwe­sen­heit des Beschw­erde­führers dessen Teil­nah­merechte nicht, und es war bei den erneuten Ein­ver­nah­men im erst- und zweitin­stan­zlichen Gerichtsver­fahren, in Anwe­sen­heit des Beschw­erde­führers und unter Beach­tung des Fragerechts, nicht erkennbar, weshalb die polizeilichen Ein­ver­nah­men nach Art. 147 Abs. 4 StPO nicht zu Las­ten des Beschw­erde­führers hät­ten ver­w­ertet wer­den dür­fen (E. 1.2).

Neben den in Art. 147 StPO sta­tu­ierten all­ge­meinen Teil­nah­merecht­en bei Beweis­er­he­bun­gen sieht Art. 159 Abs. 1 StPO in Bezug auf die beschuldigte Per­son vor, diese habe bei polizeilichen Ein­ver­nah­men das Recht, dass ihre Vertei­di­gung anwe­send sein und Fra­gen stellen kann. Im Urteil BGE 143 IV 397 (E. 3.3.1) hat das Bun­des­gericht aus­ge­führt, gemäss Art. 159 Abs. 1 StPO komme der beschuldigten Per­son das Recht zu, “dass ihre Vertei­di­gung, nicht aber sie selb­st, bei Beweis­er­he­bun­gen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Ein­ver­nah­men von Auskun­ftsper­so­n­en, anwe­send sein und Fra­gen stellen kann” (E. 1.3).

Das dadurch zum Aus­druck gebrachte Ver­ständ­nis von Art. 159 Abs. 1 StPO, bei sämtlichen polizeilichen Ein­ver­nah­men im Ermit­tlungsver­fahren sei die Vertei­di­gung teil­nah­me­berechtigt, wird in der Lit­er­atur nicht geteilt. Art. 159 Abs. 1 StPO sagt nicht aus­drück­lich, bei welchen polizeilichen Ein­ver­nah­men im Ermit­tlungsver­fahren die Vertei­di­gung teil­nah­me­berechtigt ist. Die betr­e­f­fende Bes­tim­mung befind­et sich im 2. Kapi­tel des 4. Titels der Straf­prozes­sor­d­nung, das die Über­schrift “Ein­ver­nahme der beschuldigten Per­son” trägt und Regeln spez­i­fisch zur Beschuldigtenein­ver­nahme sta­tu­iert, nicht aber im vorherge­hen­den 1. Kapi­tel, welch­es all­ge­meine Regeln zur Erhe­bung und Ver­w­ert­barkeit von Beweisen, zur Ein­ver­nahme, zu den Teil­nah­merecht­en bei Beweis­er­he­bun­gen und zu Schutz­mass­nah­men bein­hal­tet. Im Ein­klang mit dieser Sys­tem­atik sieht sodann auch die bun­desrätliche Botschaft aus­drück­lich vor, dass das Teil­nah­merecht der Vertei­di­gung im polizeilichen Ermit­tlungsver­fahren auf Ein­ver­nah­men allein der beschuldigten Per­son beschränkt sein soll und sie an anderen Ein­ver­nah­men, wie etwa von Auskun­ftsper­so­n­en oder Mitbeschuldigten, nicht teil­nehmen kann (vgl. Botschaft zur Vere­in­heitlichung des Straf­prozess­rechts vom 21. Dezem­ber 2005, BBl 2006 1194, Ziff. 2.4.2; E. 1.4).

Vor diesem Hin­ter­grund kann an der im Urteil BGE 143 IV 397 zum Aus­druck gebracht­en Ansicht, die Vertei­di­gung sei im polizeilichen Ermit­tlungsver­fahren auch bei anderen Beweis­er­he­bun­gen als der Ein­ver­nahme der beschuldigten Per­son teil­nah­me­berechtigt, nicht fest­ge­hal­ten wer­den. Das Bun­des­gericht präzisierte dessen Recht­sprechung somit dahinge­hend, dass der Anspruch der beschuldigten Per­son auf Anwe­sen­heit ihrer Vertei­di­gung nach Art. 159 Abs. 1 StPO auss­chliesslich bei der polizeilichen Ein­ver­nahme der beschuldigten Per­son gilt. Eine Ver­let­zung des Teil­nah­merechts im Sinne von Art. 159 Abs. 1 StPO fiel im zu beurteilen­den Fall daher auss­er Betra­cht (E. 1.3). Das Bun­des­gericht bestätigte damit die vorin­stan­zliche Auf­fas­sung zur Ver­w­ert­barkeit der polizeilichen Ein­ver­nah­men (E. 1.4.).