4A_394/2021: Beweismass für die Voraussetzungen nach Art. 40 VVG (amtl. publ.)

Im zur Publikation vorgesehenen Entscheid 4A_394/2021 vom 11. Januar 2022 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage des Beweismasses für die Voraussetzungen nach Art. 40 VVG auseinander. Das Bundesgericht stellte klar, dass das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eine Beweisnot voraussetzt. Entsprechend ist zu prüfen, ob für den von der Versicherung obliegenden Beweis der betrügerischen Begründung des Versicherungsanspruches eine solche Not besteht. Hinsichtlich der Täuschungsabsicht (subjektive Voraussetzung) als innerpsychologisches Phänomen liegt eine Beweisnot vor und der Nachweis mit dem Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit genügt. Beim Beweis der objektiven Voraussetzung der Darstellung von wahrheitswidrigen Fakten besteht demgegenüber keine generelle Beweisnot. Der Nachweis ist daher grundsätzlich mit dem strikten Beweismass zu erbringen; allerdings kann es Konstellationen geben, bei denen ausnahmsweise eine Beweisnot bestehen kann.

Dem Entscheid liegt fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

A (Ver­sichert­er) war über sein Einzelun­ternehmen C bei der B AG (Ver­sicher­er) im Rah­men eines Kollek­tivkranken­taggeld­ver­sicherungsver­trags gegen die Fol­gen von krankheits­be­d­ingter Arbeit­sun­fähigkeit ver­sichert. Mit Krankheitsmeldung vom 13. April 2016 teilte er dem Ver­sicher­er mit, dass er seit dem 4. April 2016 wegen Stress und Rück­en­schmerzen arbeit­sun­fähig sei. Gestützt auf ärztliche Arbeit­sun­fähigkeit­sat­teste leis­tete die Ver­sicherung vom 18. April 2016 bis 31. Jan­u­ar 2017 Taggelder. Nach­dem sie Ken­nt­nis darüber erlangt hat­te, dass der Ver­sicherte am 21. Mai 2016 anlässlich ein­er Tax­i­fahrt eine Auf­fahrkol­li­sion verur­sacht hat­te, trat sie mit Schreiben vom 14. März 2017 infolge betrügerisch­er Anspruchs­be­grün­dung nach Art. 40 VVG rück­wirk­end vom Ver­trag zurück und forderte bere­its aus­gerichtete Taggelder zurück. Der Ver­sicherte bestritt die betrügerische Anspruchsbegründung.

Am 29. Okto­ber 2019 erhob der Ver­sicherte Klage beim Sozialver­sicherungs­gericht des Kan­tons Zürich. Der Ver­sicher­er beantragte die Abweisung der Klage und erhob Widerklage.

Mit Urteil vom 1. Juni 2021 wies das Sozialver­sicherungs­gericht die Klage ab, hiess die Widerk­lage gut und verpflichtete den Ver­sicherten, dem Ver­sicher­er CHF 47’509 zuzüglich Zins zu bezahlen.

Dage­gen erhob der Ver­sicherte Beschw­erde vor Bun­des­gericht. Mit Urteil vom 11. Jan­u­ar 2022 wies das Bun­des­gericht die Beschw­erde ab, soweit es darauf eintrat.


Voraus­set­zun­gen von Art. 40 VVG

Zunächst erin­nerte das Bun­des­gericht an die Voraus­set­zun­gen gemäss Art. 40 VVG:

In objek­tiv­er Hin­sicht liegt eine betrügerische Begrün­dung des Ver­sicherungsanspruchs im Sinne von Art. 40 VVG vor, wenn der Ver­sicherte Tat­sachen ver­schweigt oder zum Zwecke der Täuschung unrichtig mit­teilt, welche die Leis­tungspflicht des Ver­sicher­ers auss­chliessen oder min­dern kön­nen. Dabei ist nur die Ver­fälschung oder Ver­heim­lichung von Tat­sachen von Bedeu­tung, welche objek­tiv geeignet ist, Bestand oder Umfang der Leis­tungspflicht des Ver­sicher­ers zu bee­in­flussen. Bei kor­rek­ter Mit­teilung des Sachver­halts müsste der Anspruchs­berechtigte eine kleinere oder gar keine Entschädi­gung aus­richt­en (E. 3.1).

In sub­jek­tiv­er Hin­sicht muss die Täuschungsab­sicht hinzutreten: Der Anspruch­steller muss dem Ver­sicher­er mit Wis­sen und Willen unwahre Angaben machen, um einen Ver­mö­gensvorteil zu erlan­gen. Es genügt bere­its, wenn der Anspruch­steller um die falsche Wil­lens­bil­dung beim Ver­sicher­er weiss oder dessen Irrtum aus­nützt, indem er über den wahren Sachver­halt schweigt oder absichtlich zu spät informiert (E. 3.2).


Beweis­last gemäss Art. 40 VVG

Den Ver­sicher­er trifft die Beweis­last für Tat­sachen, die ihn zu ein­er Kürzung oder Ver­weigerung der ver­traglich vorge­se­henen Leis­tung berechti­gen oder die den Ver­sicherungsver­trag gegenüber dem Anspruchs­berechtigten unverbindlich machen. Damit trägt der Ver­sicher­er die Beweis­last für die betrügerische Begrün­dung des Ver­sicherungsanspruch­es nach Art. 40 VVG. Dies trifft auch dann zu, wenn sich die Klage des Ver­sicherten auf Leis­tung und die Widerk­lage des Ver­sicher­ers auf Rück­er­stat­tung im gle­ichen Ver­fahren gegenüber­ste­hen (E. 3.3).


Beweis­mass i.Z.m. Art. 40 VVG

Sodann fasste das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zum Beweis­mass i.Z.m. Art. 40 VVG zusam­men: Im Zusam­men­hang mit der betrügerischen Begrün­dung des Ver­sicherungsanspruch­es nach Art. 40 VVG hat das Bun­des­gericht bere­its mehrfach entsch­ieden, dass das Beweis­mass der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit gilt. In anderen Entschei­den hat das Bun­des­gericht fest­ge­hal­ten, dass das Beweis­mass für die Täuschungsab­sicht auf die über­wiegende Wahrschein­lichkeit reduziert ist, oder dass keine Gründe ersichtlich sind, weshalb diese Beweiser­le­ichterung nicht auch auf die vor­liegende Kon­stel­la­tion von Art. 40 VVG, namentlich für den Beweis der absichtlichen Her­beiführung des Ver­sicherungs­falls (mit oder ohne Täuschungswille, der naturgemäss nur schwierig zu erbrin­gen sei), Anwen­dung find­en sollte (E. 3.4.2.).

In diesem Zusam­men­hang stellte das Bun­des­gericht klar, dass das Beweis­mass der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit eine Beweis­not voraus­set­zt, und prüfte, ob für den von der Ver­sicherung obliegen­den Beweis der betrügerischen Begrün­dung des Ver­sicherungsanspruch­es eine solche Not beste­ht (E. 3.4.3):

Gemäss Art. 40 VVG muss die Ver­sicherung zwei Voraus­set­zun­gen nach­weisen: Erstens die wahrheitswidrige Darstel­lung von Fak­ten durch den Ver­sicherten (Erwä­gung 3.1) und zweit­ens die Täuschungsab­sicht (…). Hin­sichtlich der Täuschungsab­sicht als innerpsy­chol­o­gis­ches Phänomen liegt eine Beweis­not vor und der Nach­weis mit dem Beweis­mass der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit genügt.
Beim Beweis der objek­tiv­en Voraus­set­zung der Darstel­lung von wahrheitswidri­gen Fak­ten beste­ht demge­genüber keine generelle Beweis­not. Der Nach­weis ist daher grund­sät­zlich mit dem strik­ten Beweis­mass zu erbrin­gen (…). Es gibt aber Kon­stel­la­tio­nen, bei denen aus­nahm­sweise eine Beweis­not beste­hen kann. So lässt sich beispiel­sweise die Vortäuschung eines Dieb­stahls in aller Regel nicht strikt nach­weisen (…), sodass sich in solchen Fällen das her­abge­set­zte Beweis­mass der über­wiegen­den Wahrschein­lichkeit auch auf den objek­tiv­en Tatbe­stand von Art. 40 VVG bezieht.”

Im vor­liegen­den Fall bestätigte das Bun­des­gericht den Entscheid der Vorin­stanz, die erwog, dass die Arbeit­stätigkeit des Ver­sicherten vom 21. Mai 2016 nicht strit­tig war (und damit erwiesen). Dieser Umstand hat­te er zehn Tage danach gegenüber dem Schaden­ex­perten ver­schwiegen. Damit sind die objek­tiv­en Voraus­set­zun­gen der betrügerischen Anspruchs­be­grün­dung erfüllt. Die Vorin­stanz kam zum Schluss, dass die sub­jek­tiv­en Voraus­set­zun­gen der betrügerischen Anspruchs­be­grün­dung erfüllt sind, da der Ver­sicherte die Wieder­auf­nahme der Arbeit gegenüber dem Ver­sicher­er ver­schwiegen hat­te, damit dieser keine Anpas­sung der Taggelder vorn­immt und weit­er­hin das Taggeld auf­grund ein­er 100%igen Arbeit­sun­fähigkeit aus­richtet (E. 4).

Wie die Vorin­stanz ver­warf das Bun­des­gericht die These des Ver­sicherten, dass es sich dabei lediglich um einen gescheit­erten Arbeitsver­such gehan­delt habe, der keine Auswirkun­gen auf die Leis­tungspflicht des Ver­sicher­ers gehabt habe (E. 5.1 und 5.2). In sub­jek­tiv­er Hin­sicht erwog das Bun­des­gericht, dass der Ver­sichert­er nicht (hin­re­ichend) dargelegt hat, inwiefern die Vorin­stanz Bun­desrecht ver­let­zt hätte, als sie gestützt auf die von ihr fest­gestell­ten Tat­sachen zum Schluss kam, dass der Ver­sichert­er die Wieder­auf­nahme der Arbeit gegenüber dem Ver­sicher­er ver­schwiegen habe, damit dieser keine Anpas­sung der Taggelder vornehme und weit­er­hin das Taggeld auf­grund ein­er Arbeit­sun­fähigkeit von 100% aus­richte, wom­it auch die sub­jek­tiv­en Voraus­set­zun­gen der betrügerischen Anspruchs­be­grün­dung erfüllt seien (E. 5.3):

Ein­mal mehr trägt er bloss vor, der Arbeitsver­such sei gle­ich zu Beginn gescheit­ert und hätte daher die Leis­tungspflicht der Beschw­erdegeg­ner­in nicht bee­in­flusst, weshalb er nicht mitzuteilen gewe­sen sei. Nach­dem aber nicht von einem gescheit­erten Ver­such son­dern von der Ausübung der Beruf­stätigkeit auszuge­hen ist, ent­behrt diese Argu­men­ta­tion von vorn­here­in der Grund­lage. Ohne­hin erwog die Vorin­stanz even­tu­aliter zu Recht, dass die Wieder­auf­nahme der Arbeit­stätigkeit auch dann rel­e­vant für die Leis­tungspflicht der Beschw­erdegeg­ner­in und daher mit­teilungspflichtig gewe­sen wäre, wenn es sich bloss um einen Arbeitsver­such gehan­delt hätte, da auch ein solch­er zu ein­er Anpas­sung des Taggeldes führen kann.”