5A_294/2021: Kompetenzabgrenzung zwischen Eheschutz- und Scheidungsgericht (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_294/2021 vom 7.12.2021 äussert sich das Bun­des­gericht ein weit­eres Mal zur Kom­pe­ten­z­ab­gren­zung zwis­chen dem Eheschutz- und dem Schei­dungs­gericht. Es beant­wortet die zwis­chen kan­tonalen Höch­st­gericht­en umstrit­tene Rechts­frage, ob das Eheschutzgericht Tat­sachen, die sich erst nach Ein­leitung des Schei­dungsver­fahrens ereignet haben, bei seinem Entscheid zu berück­sichti­gen hat. Es bejaht diese Frage.


Urteil­szusam­men­fas­sung

Das Bun­des­gericht erwägt, ein Sachentscheid dürfe erst erge­hen, wenn das Gericht über sämtliche Entschei­dungs­grund­la­gen ver­füge, um zu beurteilen, ob der gel­tend gemachte Anspruch begrün­det oder unbe­grün­det sei (sog. Spruchreife). Das Gericht müsse alle Tat­sachen und Beweis­mit­tel berück­sichti­gen, die eine Partei zuläs­siger­weise in den Prozess ein­bringe.

Dem Eheschutzgericht obliege es daher, das Eheschutzver­fahren unter Ein­schluss sämtlich­er nach Art. 229 und 317 ZPO zu berück­sichti­gen­den Tat­sachen und Beweis­mit­tel zu Ende zu führen. Dies auch dann, wenn zwis­chen­zeitlich eine Schei­dungsklage ein­gere­icht wor­den sei. Im Einzelfall müsse das Eheschutzgericht daher auch Tat­sachen berück­sichti­gen, die erst nach Ein­leitung des Schei­dungsver­fahrens ent­standen seien und sich auch nur während der Dauer dieses Ver­fahrens auswirken. Dies sei im Sinne ein­er möglichst prozessökonomis­chen Koor­di­na­tion von Eheschutz- und Schei­dungsver­fahren hinzunehmen. Dadurch werde auch sichergestellt, dass Eheschutz­mass­nah­men möglichst aktuell seien und den tat­säch­lichen Gegeben­heit­en entsprechen.

Würde man anders entschei­den, wären die Parteien gezwun­gen, bere­its während des noch hängi­gen Eheschutzver­fahrens ein Abän­derungs­begehren beim Schei­dungs­gericht zu stellen, wobei dieses noch gar nicht an die Hand genom­men wer­den kön­nte. Dies würde zu ein­er Vervielfachung von Ver­fahren führen und auch heik­le Fra­gen der Ver­fahren­sko­or­di­na­tion aufwerfen.

Im Ergeb­nis kommt das Bun­des­gericht zum Schluss, es sei willkür­lich, nach Ein­leitung des Schei­dungsver­fahrens ergan­gene Tat­sachen, die form- und frist­gerecht vorge­bracht wur­den, im Eheschutzver­fahren nicht zu berücksichtigen.


Kom­men­tar

Die durch das Urteil geschaf­fene Rechtsvere­in­heitlichung ver­hin­dert eine gravierende Rechtss­chut­zlücke. Die unter­schiedliche Prax­is der kan­tonalen Höch­st­gerichte zur Berück­sich­ti­gung neuer Tat­sachen im Über­gang von Eheschutz- und Schei­dungsver­fahren barg bei interkan­tonalem Zuständigkeitswech­sel die Gefahr eines neg­a­tiv­en Kom­pe­ten­zkon­flik­ts. Tat­sachen, die nach Ein­leitung des Schei­dungsver­fahrens einge­treten sind, hät­ten beispiel­sweise in keinem Ver­fahren mehr vorge­bracht wer­den kön­nen, wenn das Eheschutzgericht im Kan­ton Zürich und das Schei­dungs­gericht im Kan­ton Luzern gele­gen wäre. Nach Prax­is des Oberg­erichts Zürich (vgl. Urteil LE190062‑O/U v. 17.3.2021 E. B.3) wären solche Tat­sachen vom Schei­dungs­gericht (in einem Abän­derungsver­fahren) zu berück­sichti­gen gewe­sen, nach Prax­is des Kan­ton­s­gerichts Luzern (vgl. LGVE 2019 II Nr. 10 E. 3.3) dage­gen bere­its vom Eheschutzgericht.

Zu begrüssen ist, dass sich das Bun­des­gericht im Urteil trotz Willkürkog­ni­tion nicht hin­ter Lehrmei­n­un­gen ver­steckt, welche die von der Vorin­stanz vertretene Mei­n­ung propagiert haben. In einem kür­zlich hier besproch­enen Urteil verneinte es eine willkür­liche Ausle­gung noch haupt­säch­lich mit dieser Begrün­dung (vgl. Beitrag vom 18.10.2021 mit Kri­tik an dieser Recht­sprechung). Davon rückt das Bun­des­gericht nun zu Recht zumin­d­est teil­weise ab.  Es sei irrel­e­vant, dass die Lösung der Vorin­stanz in der Lehre teil­weise auf Zus­tim­mung gestossen sei. Wohl gelte ein Entscheid, der sich auf Lehrmei­n­un­gen stütze, in der Regel nicht als willkür­lich. Jedoch beg­nügten sich die zitierten Lehrmei­n­un­gen mit einem blossem Hin­weis auf die Prax­is einzel­ner Kan­tone und seien daher nicht massgebend.