5A_75/2020: Passivlegitimation im Abänderungsprozess (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_75/2020 vom 12.1.2022 ändert das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zur Pas­sivle­git­i­ma­tion bei Abän­derung von Kindesun­ter­halts­beiträ­gen, die durch das Gemein­we­sen bevorschusst wer­den. Bis­lang hat­te der Unter­halt­spflichtige, der seine Unter­haltss­chuld her­ab­set­zen oder aufheben lassen wollte, in diesen Fällen gemäss BGE 143 III 177 das Kind und das bevorschussende Gemein­we­sen gemein­sam ins Recht zu fassen. Gemäss neuem Leit­entscheid muss das Gemein­we­sen nicht mehr beklagt wer­den; die Abän­derungsklage kann nun­mehr gegen das Kind alleine erhoben wer­den. Der äusserst aus­führliche und sorgfältig begrün­dete Entscheid wird nach­fol­gend stark zusam­menge­fasst wiedergegeben. Abschliessend erfol­gt ein Hin­weis auf die Auswirkun­gen, die das Urteil auf die Sach­le­git­i­ma­tion bei der Unter­halts­fest­set­zung von Kindern zeit­igt, die von der Sozial­hil­fe unter­stützt werden.


Das Bun­des­gericht führt aus, die Prob­lematik der Sach­le­git­i­ma­tion bei Abän­derungskla­gen lasse sich auf BGE 137 III 193 zurück­führen. In diesem Urteil sei das Bun­des­gericht von der Prämisse aus­ge­gan­gen, es müsse dem bevorschussenden Gemein­we­sen, die Schuld­ner­an­weisung zu ver­lan­gen. Das Bun­des­gericht habe dies rechts­dog­ma­tisch damit zu erk­lären ver­sucht, das Gemein­we­sen sub­ro­giere nicht nur in die effek­tiv bevorschussten Forderun­gen, son­dern das Unter­haltsstamm­recht als solch­es. Die nach­fol­gen­den Urteile seien davon geprägt, mit den daraus für die Abän­derungsklage ergeben­den Kon­se­quen­zen bei der Sach­le­git­i­ma­tion fer­tig zu werden.

Eine tele­ol­o­gis­che Ausle­gung von Art. 289 Abs. 2 ZGB ergebe, dass der Geset­zge­ber das Gemein­we­sen nicht nur zum Gläu­biger der bevorschussten Unter­halts­forderun­gen machen, son­dern es auch in den Genuss von damit ver­bun­de­nen Priv­i­legien kom­men lassen wollte. Es gebe indes keine Anhalt­spunk­te, dass der Geset­zge­ber davon aus­ge­gan­gen sei, es bedürfe dafür des Über­gangs des Stamm­rechts. Im Gegen­teil komme im Wort­laut des später erlasse­nen aArt. 131 Abs. 2 ZGB (heute Art. 131a Abs. 2 ZGB) und weit­eren Nor­men deut­lich zum Aus­druck, dass nur diejeni­gen Unter­halts­forderun­gen auf das Gemein­we­sen überge­hen sollen, die effek­tiv bevorschusst wor­den sind. Dies müsse auch für den inhaltlich iden­tis­chen Art. 289 Abs. 2 ZGB gelten.

Die weit­ere Recht­sprechung sei vom Bedenken geprägt, das Gemein­weisen müsse möglicher­weise “falsch” fest­gelegte Unter­halts­beiträge bevorschussen, wenn es am Abän­derung­sprozess nicht beteiligt sei. Diese Sorge scheine indes bei näher­er Betra­ch­tung wenig begrün­det. In den meis­ten Kan­to­nen werde nicht der von Geset­zes wegen gegebene Unter­halt bevorschusst, son­dern für die Bevorschus­sung ein gerichtlich­es Urteil oder eine genehmigte Unter­haltsvere­in­barung ver­langt. Das bevorschussende Gemein­we­sen wirke daher bei der Unter­halts­fest­set­zung nicht mit. Es sei nicht ersichtlich, wieso es bei einem Abän­derung­sprozess zwin­gend beteiligt wer­den sollte. Überdies komme bei der Fest­set­zung des Kindesun­ter­halts neb­st der Offizial­maxime stets die Unter­suchungs­maxime zum Tra­gen, wom­it eine hin­re­ichende Garantie beste­he, dass die fest­ge­set­zten Unter­halts­beiträge dem materiellen Recht entsprechen.

Art. 289 Abs. 2 ZGB sei im Rah­men ein­er tele­ol­o­gis­chen Ausle­gung auf das zu reduzieren, was der Geset­zge­ber damit beab­sichtigt habe: Der Unter­halt­sanspruch damit ver­bun­dene Priv­i­legien sollen an das Gemein­we­sen überge­hen, wenn dieses Unter­halts­beiträge bevorschusse. Hier­für genüge es, wenn das Gemein­we­sen in die effek­tiv bevorschussten Einzelforderun­gen sub­ro­giere. Dass über die tat­säch­lich bevorschussten Unter­halts­forderun­gen hin­aus das Stamm­recht oder zukün­ftige peri­odis­che Einzelforderun­gen auf das Gemein­we­sen überge­hen sollen, sei bei erneuter Betra­ch­tung der Prob­lematik nicht gerecht­fer­tigt. Die Schuld­ner­an­weisung zugun­sten des bevorschussenden Gemein­we­sens sei gle­ich­wohl möglich. Aus recht­spoli­tis­chen Grün­den könne es dem Gemein­we­sen, das auch in Zukun­ft Unter­halts­beiträge bevorschusse, dem aus­drück­lichen Willen des Geset­zge­bers entsprechend zuge­bil­ligt wer­den, in der betr­e­f­fend­en Höhe eine Schuld­ner­an­weisung zu verlangen.

Aus dem Gesagten ergebe sich, dass bei ein­er Abän­derungsklage unab­hängig davon, ob und ab wann die Unter­halts­beiträge vom Gemein­we­sen bevorschusst wer­den, immer nur der Unter­haltss­chuld­ner und das Kind Prozess­parteien seien.


Die neue Recht­sprechung entschlackt kün­ftige Abän­derung­sprozesse und ist aus Praxis­sicht zu begrüssen. Warum dem Gemein­we­sen die Schuld­ner­an­weisung zuste­hen soll, obwohl wed­er das Stamm­recht noch zukün­ftig zu bevorschussende Unter­halts­forderun­gen auf das Gemein­we­sen überge­hen, ver­mag das Bun­des­gericht dog­ma­tisch nicht zu begrün­den. Es geste­ht dies auch offen ein, wenn es die Schuld­ner­an­weisung dem Gemein­we­sen aus recht­spoli­tis­chen Grün­den zubil­ligt. Dies erscheint indes vor­liegend angemessen, da es dem ein­deuti­gen Willen des Geset­zge­bers entspricht; dieser ist — wie es das Bun­des­gericht tre­f­fend for­muliert — nicht an Dog­matik gebunden.

Das Urteil zeit­igt auch Auswirkun­gen auf die Sach­le­git­i­ma­tion bei der (erst­ma­li­gen) Unter­halts­fest­set­zung von Kindern, die von der Sozial­hil­fe unter­stützt wer­den. Bis­lang war in der kan­tonalen Recht­sprechung umstrit­ten, ob das Kind in solchen Fällen alleine aktivle­git­imiert ist oder ob es — vor­be­hältlich ein­er Rückzes­sion — gemein­sam mit dem unter­stützen­den Gemein­we­sen kla­gen muss (für alleinige Aktivle­git­i­ma­tion des Kindes LGVE 2020 II Nr. 9, Oberg­ericht Solothurn ZKBER.2020.78 E. 3.3 f., Urteil Kan­ton­s­gericht Graubün­den ZF 08 38 E. 2c; dage­gen vor­be­hältlich ein­er Rückzes­sion Oberg­ericht Bern ZK 19 380 E. 15.5 — 15.8, Oberg­ericht Zürich LZ150016 E. D.4.4). Das Stamm­recht verbleibt nach dem neuen Bun­des­gericht­surteil alleine beim Kind und es ist beim Abän­derung­sprozess fol­glich auch bezüglich Unter­haltspe­ri­o­den alleine pas­sivle­git­imiert, in denen die Unter­halts­forderun­gen zufolge Bevorschus­sung bere­its auf das Gemein­we­sen überge­gan­gen sind. Entsprechend muss es ana­log auch für die Fest­set­zung von Unter­halt in Peri­o­den alleine aktivle­git­imiert sein, in denen die Unter­halts­forderun­gen zufolge teil­weis­er oder voll­ständi­ger Unter­stützung der Sozial­hil­fe auf das Gemein­we­sen überge­gan­gen sind.