5A_1000/2020: Schweizweiter Arrest mit Lead-Betreibungsamt, sinngemässe Anwendung von Art. 89 SchKG (amtl. publ.)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_1000/2020 vom 1. Februar 2022 entschied das Bundesgericht über die bis jetzt umstrittene Frage, ob ein Betreibungsamt als Lead-Betreibungsamt mit dem Vollzug eines schweizweiten Arrests beauftragt werden kann. Das Bundesgericht bejahte diese Frage und erwog, dass Art. 89 SchKG im schweizweiten Arrestzug sinngemäss anwendbar ist. Dabei legte das Bundesgericht die Anforderungen an die Beauftragung eines Lead-Betreibungsamtes fest.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Gestützt auf eine Sich­er­stel­lungsver­fü­gung erliess das Kan­tonale Steuer­amt Zürich einen Arrest­be­fehl gegen den Schuld­ner zur Sicherung von Steuer­forderun­gen von Kan­ton und Gemeinde. Darin wird eine Rei­he von Ver­mö­genswerten aufge­führt, die sich im Zuständigkeits­bere­ich ver­schieden­er Betrei­bungsämter befind­en, und das Betrei­bungsamt Mal­o­ja als Lead-Betrei­bungsamt mit dem recht­shil­feweisen Arrestvol­lzug beauftragt.

In der Folge ersuchte das Betrei­bungsamt Mal­o­ja unter Hin­weis auf seine Beze­ich­nung als Lead-Amt die betrof­fe­nen Betrei­bungsämter um Vol­lzug der Arreste und Über­mit­tlung der Arrest­berichte zwecks Erstel­lung der Arresturkunde. Zur Koor­di­na­tion set­zte das Betrei­bungsamt Mal­o­ja den Beginn der Vol­lzugshand­lun­gen auf früh­estens 14.30 Uhr an. Zudem zeigte es diversen Unternehmungen mit Sitz in seinem Spren­gel die Ver­ar­restierung von Forderun­gen des Arrestschuld­ners an. Die Arrestvol­lzugsaufträge samt dazuge­hören­den Unter­la­gen wur­den dem Rechtsvertreter des Schuld­ners per E‑Mail übermittelt.

Dage­gen erhob der Schuld­ner Beschw­erde bei der Schuld­be­trei­bungs- und Konkurskam­mer des Kan­ton­s­gerichts von Graubün­den als Auf­sichts­be­hörde über Schuld­be­trei­bung und Konkurs. Das Kan­ton­s­gericht wies die Beschw­erde mit Entscheid vom 17. Novem­ber 2020 ab. Die Vorin­stanz erwog, dass die seit dem 1. Jan­u­ar 2011 neu beste­hende Kom­pe­tenz des Arrest­gerichts nur die schweizweite richter­liche Arrest­be­wil­li­gung bet­rifft. Eine Regelung für den betrei­bungsamtlichen Arrestvol­lzug fehle hinge­gen. Der Ver­weis in Art. 275 SchKG beschränke sich auf die sin­ngemässe Anwen­dung von Art. 91–109 SchKG über die Pfän­dung, erwähne aber den Art. 89 SchKG, welch­er auch den Pfän­dungsvol­lzug auf dem Recht­shil­feweg vorse­he, nicht. Aus­ge­hend vom Ziel der Revi­sion, einen schweizweit ein­heitlichen Voll­streck­ungsraum zu schaf­fen, liegt nach Ansicht der Vorin­stanz beim fehlen­den Hin­weis in Art. 275 SchKG auf Art. 89 SchKG ein geset­zge­berisches Verse­hen vor. Um die dies­bezüglich offe­nen Fra­gen zu beant­worten, dränge sich die Über­nahme der Regeln zur Pfän­dung auf. Unter Hin­weis auf die Prax­is des Zürcher Oberg­erichts sei allerd­ings erforder­lich, dass der Arrestrichter bzw. die Arrest­be­hörde dem Betrei­bungsamt konkrete Anweisun­gen für den Arrestvol­lzug gibt. Dies bedeute, dass das Lead-Betrei­bungsamt im Arrest­be­fehl aus­drück­lich als solch­es beze­ich­net werde und damit für den gesamten Vol­lzug des Arrestes zuständig sei. Zudem bedürfe es ein­er genauen Auflis­tung der zu ver­ar­restieren­den Ver­mö­genswerte und der Benen­nung, welchen Betrei­bungsämtern der Arrest­be­fehl im Rah­men der Recht­shil­fe zugestellt wer­den solle. Das Lead-Betrei­bungsamt sei nicht berechtigt, selb­ständig und ohne entsprechende richter­liche oder behördliche Anweisung, in einem anderen Betrei­bungsspren­gel Gegen­stände recht­shil­feweise mit Arrest bele­gen zu lassen (E. 2).

Der Schuld­ner zog den Entscheid des Kan­ton­s­gerichts an das Bun­des­gericht weit­er, welch­es die Beschw­erde abwies, soweit es darauf eintrat.

Vor Bun­des­gericht beantragte der Schuld­ner die Aufhe­bung des kan­ton­s­gerichtlichen Entschei­des sowie (wie im kan­tonalen Ver­fahren) die Fest­stel­lung, dass sämtliche Arreste bzw. Arrestaufträge des Betrei­bungsamtes Mal­o­ja gestützt auf die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung des Kan­tonalen Steuer­amtes Zürich  betr­e­f­fend die Staats- und Gemein­des­teuern nichtig seien. Das Betrei­bungsamt Mal­o­ja sei anzuweisen, die Arreste unverzüglich aufzuheben bzw. deren schweizweite Aufhe­bung umge­hend anzuord­nen. Even­tu­aliter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Kan­ton­s­gericht zurückzuweisen.


Schweizweit­er Arrest und Art. 89 SchKG

Zunächst rief das Bun­des­gericht die Grund­sätze des schweizweit­en Arrests in Erin­nerung und merk­te in diesem Zusam­men­hang an, dass die Frage, ob es sich beim Auss­chluss des Ver­weis­es in Art. 275 SchKG auf Art. 89 SchKG um ein geset­zge­berisches Verse­hen han­delt, umstrit­ten ist (E. 3.2 und 3.3):

Gemäss Art. 271 Abs. 1 SchKG kann der Gläu­biger für eine Forderung, soweit diese nicht durch ein Pfand gedeckt ist, Ver­mö­gensstücke des Schuld­ners, die sich in der Schweiz befind­en, mit Arrest bele­gen lassen. Für den Vol­lzug des Arrest­be­fehls wird in Art. 275 SchKG auf die sin­ngemässe Gel­tung von Art. 91–109 SchKG über die Pfän­dung ver­wiesen. Nicht erwäh­nt wird hinge­gen der Art. 89 SchKG, welch­er das Betrei­bungsamt anweist, die Pfän­dung unverzüglich zu vol­lziehen oder durch das Betrei­bungsamt am Ort, wo sich das zu pfän­dende Ver­mö­gensstück befind­et, vol­lziehen zu lassen. Damit fehlt eine Bes­tim­mung, welche bei Bedarf den recht­shil­feweisen Arrestvol­lzug entsprechend der Pfän­dungsregelung, klar fes­tlegt. Die Frage, ob es sich um ein geset­zge­berisches Verse­hen han­delt, wie die Vorin­stanz meint und der Beschw­erde­führer bestre­it­et, ist umstritten.”

Das Bun­des­gericht set­zte sich sodann mit der (bis jet­zt fehlen­den) bun­des­gerichtlichen Recht­sprechung und mit der kan­tonalen Prax­is (E. 3.3.1) sowie mit den Lehrmei­n­un­gen (E. 3.3.2) auseinan­der und stellte fest, dass diese nicht ein­heitlich bzw. ges­pal­ten sind, weil sie den fehlen­den Ver­weis auf Art. 89 SchKG unter­schiedlich deuten.

Das Bun­des­gericht legte in der Folge Art. 271 Abs. 1 SchKG i.V.m. Art. 275 SchKG aus, um zu bes­tim­men, ob eine Geset­zes­lücke oder ein qual­i­fiziertes Schweigen vor­liegt (E. 3.4). Das Bun­des­gericht kam unter Berück­sich­ti­gung des Ziels der Ein­führung der ZPO und der Inkraft­set­zung des rev­i­dierten LugÜ (namentlich der Schaf­fung eines ein­heitlichen schweizweit­en Voll­streck­ungsraums) sowie gestützt auf die Geset­zes­ma­te­ri­alien zum Schluss, dass es sich bei der fehlen­den geset­zlichen Regelung des schweizweit­en Arrestvol­lzugs um ein geset­zge­berisches Verse­hen han­delt (E. 3.4.2).

Infolgedessen erwog das Bun­des­gericht, dass zur Lück­en­fül­lung nahe­liegt, die Analo­gie zum Pfän­dungsvol­lzug zu ziehen, und für den Arrestvol­lzug den mass­geben­den Art. 89 SchKG sin­ngemäss gel­ten zu lassen (E. 3.4.3, Her­vorhe­bun­gen hinzugefügt):

Im Zen­trum ste­ht der geset­zge­berische Wille, einen schweizweit­en Arrest zu ermöglichen und ihn sachgerecht und kor­rekt zu vol­lziehen. Dabei ist stets der Über­raschungsef­fekt vor Augen zu hal­ten, wie er für den Arrest gewollt ist. Hinzu kom­men prak­tis­che Aspek­te der Durch­führung, welche eine zeitliche Koor­di­na­tion des Vol­lzugs ver­langt. Um diesen Anforderun­gen gerecht zu wer­den, drängt sich ein Betrei­bungsamt auf, welch­es für den Arrestvol­lzug schweizweit zuständig ist (…). Die u.a. im Kan­ton Zürich entwick­elte Prax­is zum Lead-Betrei­bungsamt zeigt fern­er, dass die Analo­gie zum Pfän­dungsvol­lzug tragfähig ist. Erforder­lich ist ins­beson­dere, dass der Arrestrichter von Amtes wegen und unab­hängig von allfäl­li­gen Parteianträ­gen ein Betrei­bungsamt beze­ich­net. Art. 274 Abs. 1 SchKG, welch­er die Kom­pe­tenz des Arrest­gerichts zu Anord­nun­gen zum Arrestvol­lzug und die Zustel­lung des Arrest­be­fehls regelt, ste­ht dem nicht ent­ge­gen. Vielmehr sind dem Betrei­bungsamt mit der Zustel­lung des Arrest­be­fehls die erforder­lichen Weisun­gen gemäss Art. 274 SchKG ein­schliesslich des Auf­trags zum recht­shil­feweisen Arrestvol­lzug durch weit­ere Betrei­bungsämter zu erteilen (…). Zu den Anweisun­gen gehören nicht nur die Bes­tim­mung des Lead-Betrei­bungsamtes, son­dern auch eine präzise Auflis­tung der zu ver­ar­restieren­den Ver­mö­genswerte und die Beze­ich­nung der Betrei­bungsämter, welchen der Arrest­be­fehl recht­shil­feweise zugestellt wer­den soll. Auf diese Weise wird der Auf­gaben­bere­ich des Lead-Betrei­bungsamtes klar abge­gren­zt.