1B_638/2021: Unentgeltliche Rechtspflege für die Privatklägerschaft

Im Urteil 1B_638/2021 vom 10. März 2022 entsch­ied das Bun­des­gericht über die Gewährung der unent­geltlichen Recht­spflege für die Pri­vatk­läger­schaft. Hin­ter­grund war eine Stra­fun­ter­suchung gegen einen Ver­mi­eter wegen Dro­hung und Beschimp­fung zum Nachteil ein­er Mieterin. Diese hat­te sich im Strafver­fahren als Straf- und Zivilk­lägerin kon­sti­tu­iert und die unent­geltliche Prozess­führung und die Ein­set­zung ihres Recht­san­walts als unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand beantragt, was die Staat­san­waltschaft abgelehnt hat­te. Auf Beschw­erde gegen diesen Entscheid hin gewährte das Oberg­ericht der Pri­vatk­lägerin zwar die unent­geltliche Recht­spflege, jedoch nicht die unent­geltliche Verbeiständung.

In ihrer Beschw­erde vor Bun­des­gericht rügte die Pri­vatk­lägerin eine Ver­let­zung von Art. 136 StPO und Art. 6 EMRK. Gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 EMRK hat jede Per­son, die nicht über die erforder­lichen Mit­tel ver­fügt, Anspruch auf unent­geltliche Prozess­führung, wenn ihr Rechts­begehren nicht aus­sicht­s­los erscheint (Art. 136 Abs. 1 StPO). Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausser­dem Anspruch auf einen unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand, wenn dies zur Wahrung der Rechte der Pri­vatk­läger­schaft notwendig ist (Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO).

Nach bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung stellt die Stra­fun­ter­suchung in der Regel eher beschei­dene juris­tis­che Anforderun­gen an die Wahrung der Mitwirkungsrechte von Geschädigten. Dabei geht es im Wesentlichen darum, allfäl­lige Schaden­er­satz- und Genug­tu­ungsansprüche anzumelden sowie an Ver­hören von Beschuldigten und allfäl­li­gen Zeu­gen teilzunehmen und gegebe­nen­falls Ergänzungs­fra­gen zu stellen. Durch­schnitts­bürg­er soll­ten daher in der Lage sein, ihre Inter­essen als Geschädigte in ein­er Stra­fun­ter­suchung selb­st wahrzunehmen. Bei der Beurteilung, ob eine Ver­beistän­dung den­noch notwendig ist, müssen die gesamten Umstände des Einzelfalls berück­sichtigt wer­den. Dabei sind ins­beson­dere die auf dem Spiel ste­hen­den Inter­essen, die Kom­plex­ität des Fall­es in tat­säch­lich­er und rechtlich­er Hin­sicht, die per­sön­lichen Umstände der geschädigten Per­son, ihre Sprachken­nt­nisse, ihr Alter, ihre soziale Sit­u­a­tion und ihr Gesund­heit­szu­s­tand zu berück­sichti­gen (E. 3.2).

Dem vor­liegen­den Strafver­fahren lag eine Auseinan­der­set­zung zwis­chen der Mieterin und ihrem Ver­mi­eter zu Grunde, bei welch­er die Mieterin von diesem ange­blich bedro­ht und beschimpft wor­den war. In tat­säch­lich­er Hin­sicht war der Sachver­halt insofern grund­sät­zlich über­schaubar und kon­nte nicht als beson­ders kom­plex beze­ich­net wer­den (E. 3.3.1). Die Mieterin erachtete den Fall aber ins­beson­dere in rechtlich­er Hin­sicht als kom­plex. In rechtlich­er Hin­sicht ist gemäss Recht­sprechung dann von einem kom­plex­en Fall auszuge­hen, wenn dieser einen unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand als notwendig erscheinen lässt, indem er heik­le Rechts­fra­gen aufwirft. Ins­ge­samt betra­chtet erre­ichte der vor­liegende Fall aber keinen Schwierigkeits­grad, der einen unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand auf­grund der Kom­plex­ität des Fall­es aus­nahm­sweise als notwendig erscheinen liess. Die Teil­nahme der Pri­vatk­lägerin am Strafver­fahren dient denn auch einzig der Durch­set­zung ihrer Zivi­lansprüche (E. 3.3.2). Insofern war die Vernei­n­ung der Notwendigkeit der Bestel­lung eines unent­geltlichen Rechts­bei­s­tands im zugrunde liegen­den Strafver­fahren vor­liegend recht­ens (E. 3.4).

Anders zu entschei­den wäre hinge­gen bezüglich der unent­geltlichen Ver­beistän­dung im Beschw­erde­v­er­fahren gewe­sen. Im vor­liegen­den Fall stand fest, dass die Mieterin keine juris­tis­chen Ken­nt­nisse hat­te, franzö­sis­ch­er Mut­ter­sprache war und über keine Aus­bil­dung ver­fügte. Auf­grund des Umstands, dass bei der Beschw­erdeer­he­bung sowohl Fris­ten als auch For­men zu beacht­en sind und überdies gewisse Rechtsken­nt­nisse erfordern, um sich in rechts­genüglich­er Weise mit den Erwä­gun­gen der Staat­san­waltschaft auseinan­derzuset­zen, ist davon auszuge­hen, dass die Mieterin nicht selb­ständig in der Lage gewe­sen wäre, ohne Unter­stützung durch ihren Rechts­bei­s­tand Beschw­erde gegen die Ver­fü­gung der Staat­san­waltschaft zu erheben. Die Vorin­stanz ver­let­zte damit Bun­desrecht, indem sie den Anspruch der Mieterin auf einen unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand man­gels Notwendigkeit im Beschw­erde­v­er­fahren verneinte (E. 5.3).