Im Urteil 6B_1404/2020 vom 17. Januar 2022 befasste sich das Bundesgericht mit dem Anklagegrundsatz. Ausgangspunkt war ein zweitinstanzlicher Schuldspruch u.a. wegen versuchter schwerer Körperverletzung, obwohl lediglich eine qualifizierte einfache Körperverletzung angeklagt worden war. In ihrer Anschlussberufung hatte die Staatsanwaltschaft entgegen ihrer eigenen Anklage und ohne deren Änderung eine Verurteilung wegen versuchter schwerer Körperverletzung beantragt.
Die Staatsanwaltschaft ist nicht an die rechtliche Würdigung in der Anklageschrift und an die darin gestellten Anträge gebunden (vgl. Art. 337 Abs. 2 StPO). Es steht ihr daher frei, vor Gericht über die Anträge in der Anklageschrift hinauszugehen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn der in der Anklage umschriebene objektive und subjektive Sachverhalt eine solche rechtliche Würdigung zulässt. Ist dies nicht der Fall, ist eine Änderung der Anklage in Anwendung von Art. 333 Abs. 1 StPO notwendig. Ergänzende tatsächliche Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Rahmen des Plädoyers vermögen eine formelle Änderung der Anklageschrift nicht zu ersetzen (E. 2.5.4). In diesem Sinne verstiess der vorliegende vorinstanzliche Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung gegen das Anklageprinzip, weshalb das Bundesgericht die Beschwerde in diesem Punkt guthiess (E. 2.5.5).
Zu prüfen blieb jedoch, ob eine Änderung bzw. Ergänzung der Anklage im Rückweisungsverfahren vor der Vorinstanz noch möglich war (E. 2.6). Gemäss Art. 329 Abs. 1 lit. a StPO prüft die Verfahrensleitung, ob die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind. Falls erforderlich, weist es die Anklage zur Ergänzung oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück (Art. 329 Abs. 2 StPO). Nach Art. 333 Abs. 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft zudem Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach dessen Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen andern Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht (Art. 333 Abs. 2 StPO; E. 2.6.1).
Eine allfällige Privatklägerschaft hat im Strafverfahren das Recht, sich als Strafklägerin zu konstituieren und die Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person zu verlangen (Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO). In diesem Rahmen kann sie sich auch zur rechtlichen Würdigung der Tat äussern und einen zu Unrecht erfolgten erstinstanzlichen Freispruch oder eine ihres Erachtens zu milde rechtliche Würdigung durch das erstinstanzliche Gericht unabhängig von allfälligen Zivilforderungen mittels Berufung anfechten (vgl. Art. 382 Abs. 1 StPO und Art. 382 Abs. 2 StPO e contrario). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist die Privatklägerschaft zudem zur Einsprache gegen einen Strafbefehl legitimiert, wenn sie an der Aufhebung oder Änderung des Strafbefehls ein rechtlich geschütztes Interesse hat (BGE 141 IV 231). Ein solches rechtlich geschütztes Interesse bejaht das Bundesgericht in analoger Anwendung der Rechtsprechung zu Art. 382 Abs. 1 StPO bei einer zu milden rechtlichen Qualifikation, auch wenn die Privatklägerschaft im Strafverfahren keine Zivilforderungen geltend machte (E. 2.6.4).
Vorliegend kam das Bundesgericht zum Schluss, dass eine Änderung der Anklage unter den gegebenen Umständen auch nach dem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid noch möglich war, da die Privatklägerschaft eine solche Änderung sowohl erst- als auch zweitinstanzlich beantragt gehabt habe und ihr Antrag bisher nicht korrekt behandelt worden sei (E. 2.6.8).