Im Urteil 6B_265/2020 vom 11. Mai 2022 entschied das Bundesgericht über einen potenziellen Fall von Schändung, nachdem ein Beschuldigter nach Beginn eines einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs das Kondom entfernt hatte, ohne dass die Sexualpartnerin dies erkennen konnte, und den Verkehr fortgesetzt hatte (sog. Stealthing). Die Partnerin habe sich zuvor ausdrücklich geschützten Geschlechtsverkehr ausbedungen.
Die strafrechtliche Relevanz des Stealthing wird anhand des Tatbestands der Schändung (Art. 191 StGB) beurteilt. Danach macht sich schuldig, wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustands zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht. Gemäss Rechtsprechung gilt als im Sinne von Art. 191 StGB widerstandsunfähig, wer nicht imstande ist, sich gegen ungewollte sexuelle Kontakte zu wehren, weil er seinen Abwehrwillen nicht (wirksam) fassen oder äussern oder in einen Abwehrakt umsetzen kann. Die Gründe einer Widerstandsunfähigkeit können dauernd, vorübergehend oder situationsbedingt sein. Die Kasuistik umfasst etwa Fälle von schwerer geistiger Einschränkung infolge einer starken Intoxikation mit Alkohol oder Drogen, solche von fehlendem körperlichem Reaktionsvermögen (beispielsweise wegen eines Gebrechens oder einer Fesselung) und schliesslich auch besondere Konstellationen wie ein Zusammenwirken von Schläfrigkeit, Alkoholisierung und einem Irrtum über die Identität des Sexualpartners. Vorausgesetzt wird, dass die Fähigkeit zu Abwehrhandlungen ganz aufgehoben und nicht nur eingeschränkt ist. Die Tathandlung des Missbrauchs nach Art. 191 StGB besteht darin, dass sich der Täter die Widerstandsunfähigkeit des Opfers bewusst zunutze macht, um eine sexuelle Handlung zu vollziehen (E. 3.2).
Dem Beschuldigten wurde vorliegend vorgeworfen, während des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs mit einer Frau bei einem Stellungswechsel ohne deren Wissen das Kondom abgestreift und den Geschlechtsverkehr ungeschützt fortgesetzt zu haben, obwohl vereinbart war, ausschliesslich geschützt zu verkehren. Er sei dabei heimlich vorgegangen, um den zu erwartenden Widerstand der Partnerin gegen den absprachewidrig fortgesetzten Geschlechtsverkehr abzuwenden (E. 3.3.).
Das Bundesgericht hielt in diesem Rahmen fest, dass Wehrlosigkeit im Sinne von Art. 191 StGB eine Situation meint, in der das Opfer infolge einer persönlichen Eigenschaft oder wegen eines vorübergehenden kognitiven oder physischen Schwächezustands dem Täter ausgeliefert ist. Ein solcher Zustand war bei der Sexualpartnerin nicht gegeben. Die Täuschung des Beschuldigten liess sie irrtümlich glauben, der Geschlechtsverkehr erfolge durchgehend geschützt. Allein deshalb war ihr die Gelegenheit genommen, abwehrend zu reagieren. Entscheidend ist jedoch, dass die Fähigkeit zur Abwehr als solche intakt blieb. Der Umstand, dass der Beschuldigte das Kondom während des Geschlechtsverkehrs abredewidrig entfernt und den Verkehr ohne das Wissen der Sexualpartnerin ungeschützt fortgesetzt haben soll, begründet mithin keine Widerstandsunfähigkeit im Sinn von Art. 191 StGB (E. 5.5).
Insofern bestätigte das Bundesgericht den vorinstanzlichen Freispruch des Beschuldigten vom Vorwurf der Schändung. Es hob das angefochtene Urteil aber insoweit auf, als die Vorinstanz noch zu prüfen habe, ob sich der Beschuldigte der sexuellen Belästigung (Art. 198 StGB) schuldig gemacht hat (E. 7).