4A_380/2022: Generalversammlung, Antragsrecht der Aktionärin, Covid-19-Pandemie (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht entsch­ied in diesem Urteil, dass es die Covid-19-Verord­nun­gen nicht zuge­lassen hät­ten, das indi­vidu­elle Antragsrecht eines Aktionärs zu ver­hin­dern. Beschlüsse von Gen­er­alver­samm­lun­gen, welche in Ver­let­zung dieses Antragsrecht ergin­gen, seien anfechtbar.

Hin­ter­grund war eine Gen­er­alver­samm­lung ein­er Aktienge­sellschaft (Beschw­erde­führerin), welche gestützt auf die damals gel­tenden Covid-19-Verord­nun­gen auf schriftlichem Weg durchge­führt wurde. Trak­tandiert war dabei u.a. eine Statuten­re­vi­sion. Eine Aktionärin beantragte erfol­g­los, die Statuten­re­vi­sion auf eine der nach­fol­gen­den ordentlichen Gen­er­alver­samm­lun­gen zu ver­schieben. Alter­na­tiv beantragte die Aktionärin, der Antrag betr­e­f­fend Revi­sion sei abzuweisen, da einige Punk­te der vorgeschla­ge­nen Statuten­re­vi­sion von den Aktionären noch zu disku­tieren seien respek­tive dies­bezüglich Klärungs­be­darf beste­he. Diese notwendi­ge Debat­te könne nicht geführt wer­den, wenn die Gen­er­alver­samm­lung auf dem Schriftweg abge­hal­ten werde. Der Ver­wal­tungsrat liess die Aktionäre daraufhin nicht über diesen Antrag abstim­men. Anlässlich der schriftlich durchge­führten Gen­er­alver­samm­lung wurde unter anderem die Statuten­re­vi­sion angenom­men. Auf Klage der Aktionärin hin stellte das Zivilkreis­gericht Basel-Land­schaft West die Nichtigkeit dieses Beschlusses fest. Die von der Beschw­erde­führerin erhobe­nen Rechtsmit­tel, zunächst an das Kan­ton­s­gericht Basel-Land­schaft und anschliessend an das Bun­des­gericht, wur­den abgewiesen.

Das Bun­des­gericht erin­nerte zunächst an die bis zum 31. Dezem­ber 2022 gel­tende Regelung im Aktien­recht (E. 3), ins­beson­dere, dass die Generelver­samm­lung, anders als bei anderen Gesellschafts­for­men, als Präsen­zver­anstal­tung konzip­iert ist, mithin eine schriftliche Beschlussfas­sung im Gesetz nicht vorge­se­hen ist (E. 3.1), sowie dass jedem Aktionär ein indi­vidu­elles Antragsrecht zukommt (E. 3.3). Daraufhin ver­weis das Bun­des­gericht auf die im Zuge der Covid-19-Pan­demie erlasse­nen Regeln, welche unter anderem vor­sa­hen, dass Ver­samm­lun­gen auf schriftlichem Weg oder in elek­tro­n­is­ch­er Form durchge­führt wer­den kon­nten (E. 4).

Die Beschw­erde­führerin drang mit ihrer Ausle­gung dieser Covid-19-Bes­tim­mungen, wonach sich die Aktionärsrechte auf physis­che Teil­nahme, auf Äusserung und auf unmit­tel­bare Diskus­sion an der Gen­er­alver­samm­lung erübrige, und entsprechend auch das damit ver­bun­dene Antragsrecht ent­fall­en sei, wenn eine Gesellschaft von der in der Covid-19-Verord­nung vorge­se­henen Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, die Gen­er­alver­samm­lung auf schriftlichem Weg durchzuführen (E. 6.1), nicht durch.

Ein der­ar­tiger Ein­griff in die Aktionärsrechte, mihtin dass das Antragsrecht der Aktionärin zwin­gend an die physis­che Teil­nahme an der Gen­er­alver­samm­lung gekop­pelt sei, könne, so das Bun­des­gericht, nicht Gehalt der Covid-19-Verord­nun­gen gewe­sen sein. Mit diesen Verord­nun­gen hätte vor­dringlich das Risiko ein­er Über­tra­gung des Coro­n­avirus ver­min­dert wer­den sollen. Dies bedeute in Bezug auf Gen­er­alver­samm­lun­gen in erster Lin­ie, dass zwecks Kon­tak­t­min­imierung die physis­che Anwe­sen­heit der Aktionäre ent­fall­en müsse. Inwiefern es zur Bewäl­ti­gung der Pan­demie hätte notwendig oder auch bloss hil­fre­ich sein sollen, den Aktionären zu ver­bi­eten, Anträge zu den trak­tandierten Ver­hand­lungs­ge­gen­stän­den auf schriftlichem Weg zu stellen, sei nicht erkennbar und könne sich jeden­falls nicht auf den Schutzgedanken der Covid-19-Verord­nun­gen stützen (E. 7.1).

Dass die Beschlussfas­sung über Anträge nicht zwin­gend an die physis­che Teil­nahme an der Gen­er­alver­samm­lung geknüpft sein könne, zeige sich sodann daran, dass über­haupt jed­er an der
Gen­er­alver­samm­lung gefasste Beschluss auf einem Antrag beruhe. Entsprechend sei auch an der Gen­er­alver­samm­lung der Beschw­erde­führerin über Anträge abges­timmt wor­den, näm­lich über jene des Ver­wal­tungsrats. Die Auf­fas­sung der Beschw­erde­führerin laufe darauf hin­aus, dass an den schriftlich durchge­führten Gen­er­alver­samm­lun­gen unter dem Covid-19-Regime nur über Anträge des Ver­wal­tungsrats (und die Anträge jen­er Aktionäre, welche zufolge entsprechen­der Kap­i­tal­beteili­gung ein Trak­tandierungs­begehren mit damit ver­bun­den­em Antrag stellen kon­nten) abges­timmt wer­den kön­nte, nicht aber über Anträge der (übri­gen) Aktionäre. Für eine solche Dif­feren­zierung gebe die Covid-19-Pan­demie keine Recht­fer­ti­gung (E. 7.2).

Sodann habe der Bun­desrat die Ausübung der Aktionärsrechte an der Gen­er­alver­samm­lung mit zwei weit­eren Mit­teln ermöglicht: ein­er­seits in “elek­tro­n­is­ch­er Form” (namentlich Tele­fon- und Videokon­ferenz), ander­er­seits durch einen unab­hängi­gen Stimm­rechtsvertreter. In diesen bei­den Fällen hätte das Antragsrecht weit­er­hin aus­geübt wer­den kön­nen. Wäre das Antragsrecht der Aktionäre bei der Durch­führung der Gen­er­alver­samm­lung “auf schriftlichem Weg” ent­fall­en, hätte der Ver­wal­tungsrat durch die Wahl der Durch­führungs­form beliebig über den Bestand dieses
Aktionärsrechts befind­en und Gegenanträge auf diese Weise auss­chal­ten kön­nen. Dies habe wed­er Sinn noch Geist der hier anwend­baren Bes­tim­mungen entsprochen (E. 7.3).

Nicht stich­haltig sei sodann das Argu­ment, wonach das Antragsrecht “in sein­er Gänze sein­er Natur nach” nur unter Anwe­senden aus­geübt wer­den könne. Zwar ent­falte das indi­vidu­elle Antragsrecht dann seine vol­lum­fängliche Wirkung, wenn darüber an der Gen­er­alver­samm­lung disku­tiert werde. Es sei aber wed­er sachgerecht noch im Inter­esse der Aktionärin, würde deren Antragsrecht aus diesem Grund gle­ich gän­zlich eli­m­iniert, wenn man­gels physis­ch­er Durch­führung der Gen­er­alver­samm­lung eine solche Diskus­sion ent­fall­en müsse (E. 7.4).

Schliesslich habe das Zivilkreis­gericht zu Recht auf den engen Zusam­men­hang von Stimm­recht und Antragsrecht hingewiesen. Das Stimm­recht ver­liere deut­lich an Trag­weite, wenn es vom Ver­wal­tungsrat darauf beschränkt werde, dessen eige­nen Vorschläge anzunehmen oder abzulehnen, ohne Gegenanträge zur Abstim­mung zuzu­lassen . Durch den Entzug sämtlich­er Beschlus­salter­na­tiv­en werde das Recht tang­iert, den Willen unver­fälscht zum Aus­druck zu brin­gen (E. 7.5).

Offen liess das Bun­des­gericht, wie das Antragsrecht und die mit diesem Recht ver­bun­de­nen Abläufe admin­is­tra­tiv zu hand­haben waren. Fest ste­he, dass der Ver­wal­tungsrat die effek­tive Ausübung der Aktionärsrechte und somit des Antragsrechts ermöglichen müsse. Umgekehrt liege es an den Aktionären, das für die Ausübung ihrer Rechte Erforder­liche vorzukehren (E. 8).

Hin­sichtlich den Rechts­fol­gen der Ver­let­zung des Antragsrechts erwog das Bun­des­gericht, dass der stre­it­ge­gen­ständliche Beschluss unter Mis­sach­tung des unentziehbaren Antragsrechts zus­tande gekom­men wäre und demzu­folge grund­sät­zlich anfecht­bar im Sinne von Art. 706 OR sei. Die Nichtzu­las­sung des Antrags als solche führe allerd­ings nicht zur Nichtigkeit des streitgegenständlichen
Gen­er­alver­samm­lungs­beschlusses, da erstens die Anfech­tung der Aktionärin in ein­er solchen Kon­stel­la­tion eine hin­re­ichende Hand­habe biete, um gegen die Ver­let­zung ihres Rechts vorzuge­hen (sog. Sub­sidiar­ität der Nichtigkeits­folge), und — vor allem — zumal zweit­ens vor­liegend die beson­deren Gegeben­heit­en der Covid-19-Pan­demie zu berück­sichti­gen seien. Es wäre mit der Rechtssicher­heit nicht vere­in­bar, das in der dama­li­gen ausseror­dentlichen Lage im Einzelfall gewählte Vorge­hen des Ver­wal­tungsrats mit der Nichtigkeit des darauf beruhen­den Gen­er­alver­samm­lungs­beschlusses zu sank­tion­ieren (E. 9.3).