5A_77/2022: Berücksichtigung der Hilflosenentschädigung im Kindesunterhalt (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_77/2022 vom 15. März 2023 stellt das Bun­des­gericht klar, dass die für ein Kind aus­bezahlte Hil­flose­nentschädi­gung bei der Berech­nung des Kindesun­ter­halts auch nach rev­i­diertem Kindesun­ter­halt­srecht nicht zu berück­sichti­gen ist. Ins­beson­dere ist sie nicht von einem allfäl­li­gen Betreu­ung­sun­ter­halt in Abzug zu bringen.

Zusam­men­fas­sung

Im nach­fol­gend besproch­enen Urteil beurteilte das Bun­des­gericht die Frage, ob unter dem rev­i­dierten Kindesun­ter­halt­srecht an der bish­eri­gen Recht­sprechung fest­ge­hal­ten wer­den kann, wonach die für ein Kind aus­bezahlte Hil­flose­nentschädi­gung nicht in die Berech­nung des Kindesun­ter­halts einzubeziehen ist. Der Beschw­erde­führer argu­men­tierte, die für das gemein­same Kind aus­bezahlte Hil­flose­nentschädi­gung sei unter dem rev­i­dierten Kindesun­ter­halt­srecht vom Betreu­ung­sun­ter­halt abzuziehen.

Das Bun­des­gericht befasste sich zuerst mit dem geset­zlichen Zweck der Hil­flose­nentschädi­gung. Es erwog, die Hil­flose­nentschädi­gung bezwecke, die durch eine Behin­derung verur­sacht­en zusät­zlichen Kosten für die Hil­fe oder Überwachung bei alltäglichen Lebensver­rich­tun­gen zu entschädi­gen. Sie habe insofern Schaden­er­satzcharak­ter und sei kein Ersatzeinkom­men. Die Höhe der Entschädi­gung werde ungeachtet der tat­säch­lich ent­stande­nen Kosten auf­grund ein­er abstrak­ten Bedarfs­berech­nung abhängig vom Schw­ere­grad der Hil­flosigkeit berech­net. Die behin­derungs­be­d­ingten Aus­la­gen wür­den somit pauschal abge­golten (E. 3.3.1).

Danach reka­pit­ulierte das Bun­des­gericht seine bish­erige Recht­sprechung vor Inkraft­treten des rev­i­dierten Kindesun­ter­halt­srechts. Gemäss dieser Recht­sprechung sei die Hil­flose­nentschädi­gung bei der Berech­nung des Kindesun­ter­halts nicht zu berück­sichti­gen gewe­sen. Dies, weil die Hil­flose­nentschädi­gung nicht direkt für den Unter­halts des Kindes bes­timmt sei, son­dern die Hil­fe finanzieren sollte, die das Kind bei alltäglichen Hand­lun­gen benötige. Die Recht­sprechung habe zudem betont, die Hil­flose­nentschädi­gung ste­he der hil­flosen Per­son selb­st zu, so dass die Entschädi­gung auch nicht zum Einkom­men des obhuts- bzw. sorge­berechtigten Eltern­teils hinzugerech­net wer­den durfte (E. 3.3.2).

Mit Inkraft­treten des rev­i­dierten Kindesun­ter­halt­srechts sei neben dem Nat­ur­al- und dem Gel­dun­ter­halt neu der Betreu­ung­sun­ter­halt einge­führt wor­den. Der Betreu­ung­sun­ter­halt wolle sich­er­stellen, dass der betreuende Eltern­teil seinen eige­nen Leben­sun­ter­halt trotz Betreu­ungsar­beit deck­en könne. Die Betreu­ung des Kindes begründe nur dann Anspruch auf Betreu­ung­sun­ter­halt, wenn sie während ein­er Zeit geleis­tet wer­den, in welch­er der Eltern­teil anson­sten ein­er bezahlten Erwerb­stätigkeit nachge­hen würde. Der Betreu­ung­sun­ter­halt soll somit den Ver­lust oder die Min­derung der Erwerb­s­fähigkeit des Eltern­teils aus­gle­ichen, der das Kind betreue (E. 3.3.3).

Nach Inkraft­treten des rev­i­dierten Kindesun­ter­halt­srechts hät­ten mehrere kan­tonale Gerichte erwogen, dass die bish­erige Recht­sprechung des Bun­des­gerichts zur Nicht­berück­sich­ti­gung der Hil­flose­nentschädi­gung nicht für den Betreu­ung­sun­ter­halt gelte. Die Hil­flose­nentschädi­gung müsse vom Betreu­ung­sun­ter­halt abge­zo­gen wer­den, da die Entschädi­gung Kosten finanziere, die anson­sten vom Betreu­ung­sun­ter­halt gedeckt wer­den müssten. Zudem sei zumin­d­est ein Teil der Betreu­ung, die das Kind benötige und der betreuende Eltern­teil leiste bereist mit der Hil­flose­nentschädi­gung abge­golten. In der Lehre seien diese kan­tonalen Urteile teil­weise auf Zus­tim­mung gestossen. Das Bun­des­gericht habe im Novem­ber 2020 in BGE 147 II 265 E. 7.1 bekräftigt, dass die Hil­flose­nentschädi­gung nicht als Einkom­men zu berück­sichti­gen sei. Es habe die Frage aber nicht im Zusam­men­hang mit dem Betreu­ung­sun­ter­halt disku­tiert. Mehrere Autor*innen hät­ten sich daher auch nach Erlas dieses Urteils weit­er­hin auf die erwäh­n­ten kan­tonalen Urteile bezo­gen und die Anrech­nung der Hil­flose­nentschädi­gung auf den Betreu­ung­sun­ter­halt befür­wortet (E. 3.3.4).

Das Oberg­ericht Zürich habe sich kür­zlich zur strit­ti­gen Frage geäussert und fest­ge­hal­ten, die Hil­flose­nentschädi­gung dürfe nicht vom Betreu­ung­sun­ter­halt abge­zo­gen werde. Gemäss den überzeu­gen­den Erwä­gun­gen des Oberg­erichts Zürich fall­en behin­derungs­be­d­ingte Aus­la­gen anders als beim Betreu­ung­sun­ter­halt nicht nur während der Erwerb­szeit an, son­dern auch mor­gens, abends, nachts, an Woch­enen­den und in den Ferien an. Der mit der Hil­flose­nentschädi­gung ver­fol­gte Zweck decke sich somit nicht mit dem Betreu­ung­sun­ter­halt (Urteile Oberg­ericht Zürich LZ210020 vom 22.4.2020 E. 2.9 und LZ170011 vom 28.11.2017 E. 5.8.d). Auch eine neuere Lehrmei­n­ung von Anja Fry spreche sich dafür aus, die Hil­flose­nentschädi­gung bei der Berech­nung des Kindesun­ter­halts nicht zu berück­sichti­gen. Sie argu­men­tiere, die Hil­flose­nentschädi­gung sie lediglich eine pauschale Abgel­tung der behin­derungs­be­d­ingten Aus­gaben und somit kein fam­i­lien­rechtlich­es Einkom­men, son­dern vielmehr Gegen­leis­tung für Aus­la­gen, die bei der Unter­halts­berech­nung nicht berück­sichtigt wür­den (Anja Fry, Die Hil­flose­nentschädi­gung in der Unter­halts­berech­nung, in: FamPra.ch 2022, S. 325 ff., insb. S. 337 ff.). Das Bun­des­gericht ergänzt, dass ein Abzug der Hil­flose­nentschädi­gung vom Betreu­ung­sun­ter­halt zu ein­er vom Gesund­heit­szu­s­tand des Kindes abhängi­gen ungerecht­fer­tigten Ungle­ich­be­hand­lung führen würde. Ein Eltern­teil, der ein hil­flos­es Kind betreue, würde nicht den vollen Betreu­ung­sun­ter­halt erhal­ten und müssen gle­ichzeit­ig auf Erwerb­seinkom­men verzicht­en und die beson­deren Bedürfnisse des Kindes finanziell deck­en. Dage­gen würde ein Eltern­teil, der kein hil­flos­es Kind betreue, den ungekürzten Betreu­ung­sun­ter­halt erhal­ten und zusät­zlich auch keine Kosten für beson­dere Bedürfnisse des Kindes übernehmen müssen. Im Übri­gen sei daran zu erin­nern, dass die Hil­flose­nentschädi­gung sich darauf beschränke, die zusät­zliche Hil­fe und Auf­sicht zu entschädi­gen, die eine hil­flose min­der­jährige Per­son im Ver­gle­ich zu ein­er nicht gesun­den min­der­jähri­gen Per­son gle­ichen Alters benötige (E. 3.3.5).

Die Vorin­stanz habe daher zu Recht darauf verzichtet, die Hil­flose­nentschädi­gung vom Betreu­ung­sun­ter­halt abzuziehen. Die Rüge des Beschw­erde­führers sei daher unbegründet.

Kom­men­tar

Die Revi­sion des Kindesun­ter­halt­srechts und die damit ver­bun­dene Ein­führung des Betreu­ung­sun­ter­halts hat zu Recht­sun­sicher­heit geführt, ob und wie die Hil­flose­nentschädi­gung bei der Unter­halts­berech­nung einzubeziehen ist. In der kan­tonalen Recht­sprechung gab es drei ver­schiedene Lösungsan­sätze: Mehrere Kan­tone (bspw. Basel-Stadt und St. Gallen) zogen die Hil­flose­nentschädi­gung vom Betreu­ung­sun­ter­halt ab. Das Oberg­ericht Bern berück­sichtigte die Hil­flose­nentschädi­gung als Einkom­men des Kindes, rech­nete jedoch im Gegen­zug im Bedarf des Kindes grosszügig behin­derungs­be­d­ingte Posi­tio­nen ausser­halb des üblichen Grundbe­darfs an und griff bei der Über­schussverteilung kor­rigierend mit einem Vor­abzug ein. Das Oberg­ericht des Kan­tons Zürich ging davon aus, die Hil­flose­nentschädi­gung sei weit­er­hin gar nicht zu berück­sichti­gen (Fry, a.a.O., S. 335–340).

Diese unter­schiedliche Prax­is führte zu ein­er Ungle­ich­be­hand­lung von gesund­heitlich beein­trächti­gen Kindern je nach beurteilen­dem Gericht. Unab­hängig davon, ob man mit dem Bun­des­gericht in materieller Hin­sicht einig geht, ist es daher zu begrüssen, dass das Bun­des­gericht hin­sichtlich der Berück­sich­ti­gung der Hil­flose­nentschädi­gung nun wieder Klarheit geschaf­fen hat. Das Bun­des­gericht geht den Weg zur Vere­in­heitlichung des Unter­halt­srechts damit kon­se­quent weiter.

Trotz des klären­den Urteils des Bun­des­gerichts wer­den sich Gerichte im Zusam­men­hang mit der Hil­flose­nentschädi­gung auch in Zukun­ft mit schwieri­gen und heiklen Fra­gen beschäfti­gen müssen. Wenn die Hil­flose­nentschädi­gung nicht in die Unter­halts­berech­nung fliesst, stellt sich die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang ein behin­derungs­be­d­ingt erhöhter Betreu­ungs­be­darf dem betreuen­den Eltern­teil noch eine Abwe­ichung vom gemäss Schul­stufen­mod­ell üblicher­weise zumut­baren Arbeit­spen­sum erlaubt. Dies umso mehr, als das Bun­des­gericht im Urteil erwäh­nt, dass der im Ver­gle­ich zu einem Kind ohne Ein­schränkun­gen erhöhte Betreu­ungs­be­darf durch die Hil­flose­nentschädi­gung abge­golten wird. Nach dem vor­liegen­den Urteil dürfte es jedoch wohl unzuläs­sig sei, eine Abwe­ichung vom Schul­stufen­mod­ell mit Hin­weis auf die Nicht­berück­sich­ti­gung der Hil­flose­nentschädi­gung zu ver­sagen. Dies liefe im End­ef­fekt wiederum auf einen verkappten Abzug der Hil­flose­nentschädi­gung vom Betreu­ung­sun­ter­halt hin­aus. Weit­er wer­den die Gerichte sorgfältig prüfen müssen, ob und welche behin­derungs­be­d­ingten Kosten im Bedarf eines Kindes, das Hil­flose­nentschädi­gung erhält, zu berück­sichti­gen sind. Kosten, die vom Zweck her, durch die Hil­flose­nentschädi­gung zu bezahlen sind, dür­fen nicht im Bedarf angerech­net wer­den, nach­dem die Hil­flose­nentschädi­gung nicht als Einkom­men berück­sichtigt wird.