Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 5A_382/2021 vom 20.4.2022 stellt das Bundesgericht klar, dass die Aktivlegitimation zur Kinderunterhaltsklage auch bei Bezug von Sozialhilfeleistungen alleine dem Kind bzw. dessen Vertreter:in zusteht. Zudem hält es fest, dass der Anspruch des vorehelichen Kindes auf Betreuungsunterhalt entfällt, wenn die Lebenshaltungskosten des obhutsberechtigten Elternteils nach einer Heirat vom neuen Ehepartner gedeckt werden. Letzteres erscheint bei näherer Betrachtung nicht angebracht und sollte überdenkt werden.
Urteilszusammenfassung
Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 5A_382/2021 vom 20.4.2022 nimmt das Bundesgericht Stellung zu zahlreichen interessanten Rechtsfragen des Kindesunterhaltsrechts. Nachfolgend werden zwei dieser Rechtsfragen näher beleuchtet: (1) Die Frage der Aktivlegitimation zur Kinderunterhaltsklage bei finanzieller Unterstützung des Kindes durch die Sozialhilfe sowie (2) die Frage des Konkurrenzverhältnisses zwischen der ehelichen Unterhaltspflicht des Ehemannes und dem Anspruch des Kindes aus einer vorehelichen Beziehung auf Betreuungsunterhalt.
Aktivlegitimation für Kinderunterhaltsklage bei Unterstützung durch Sozialhilfe
Im zu beurteilenden Fall verlangte das auf Unterhalt klagende Kind bzw. dessen Mutter vom unterhaltspflichtigen Vater Unterhaltsbeiträge für Zeiträume, in denen das Kind von der Sozialhilfe finanziell unterstützt wurde. Der Vater machte geltend, das Kind sei nicht legitimiert, für diese Zeiträume eine Unterhaltsklage zu erheben.
Das Bundesgericht erwog, der Unterhaltsanspruch des Kindes gehe gemäss Art. 131a Abs.2 und Art. 289 Abs. 2 ZGB mit allen Rechten auf das Gemeinwesen über, soweit das Gemeinwesen für den Unterhalt des Kindes aufkomme. Das Gemeinwesen subrogiere nicht nur in den Unterhaltsanspruch, wenn es gestützt auf ein rechtskräftiges Urteil Unterhaltsbeiträge bevorschusse, sondern auch wenn es Sozialhilfeleistungen vor oder während eines Verfahrens auf erstmalige Erstreitung eines Unterhaltstitels erbringe.
Im zur Publikation bestimmten Urteil 5A_75/2020 vom 12.1.2022 habe das Bundesgericht im Kontext einer vom Unterhaltsschuldner erhobenen Abänderungsklage zum Gegenstand der Subrogation Stellung genommen und seine Rechtsprechung zur Passivlegitimation geändert. Demnach gehe bei der Subrogation nicht das Stammrecht über, sondern die daraus abgeleiteten, tatsächlich bevorschussten einzelnen Unterhaltsbeiträge. Gegenstand der Abänderungsklage sei indes die neue Quantifizierung des Stammrechts, so dass die Passivlegitimation unabhängig von einer Bevorschussung immer beim Kind oder dessen Vertreter:in liege. Die Überlegungen — namentlich, dass Gegenstand der Unterhaltsklage die Quantifizierung des Stammrechts sei — gälten auch für den Fall, dass das Gemeinwesen mangels vollstreckbarem Unterhaltstitel Sozialhilfeleistungen erbracht habe. Entsprechend liege die Aktivlegitimation zur Unterhaltsklage auch für Zeiträume, in denen das Kind von der Sozialhilfe finanziell unterstützt worden sei, einzig beim Kind bzw. dessen Vertreter:in.
Wegfall des Betreuungsunterhalts zufolge Heirat
Umstritten war neben der Aktivlegitimation auch der Betreuungsunterhalt. Dies unter anderem, weil die obhutsberechtigte Mutter im Laufe des Verfahrens ihren bisherigen Partner, mit dem sie ein gemeinsames Kind hat, heiratete. Die Mutter verfügte nicht über ein bedarfsdeckendes Einkommen und wurde im Umfang des Mankos von ihrem Ehemann unterstützt. Es stellte sich die Rechtsfrage, ob gleichwohl Betreuungsunterhalt für das voreheliche Kind geschuldet war. Strittig war somit das Konkurrenzverhältnis zwischen der ehelichen Unterhaltspflicht des Ehemannes nach Art. 163 ZGB und dem Anspruch des Kindes aus einer vorehelichen Beziehung auf Betreuungsunterhalt.
Das Bundesgericht erwog, der Betreuungsunterhalt bezwecke das Manko zwischen Einkommen und Bedarf abzugelten, das entstehe, weil ein Elternteil aufgrund der persönlichen Betreuung des Kindes davon abgehalten werde, ein den Bedarf deckendes Erwerbseinkommen zu erzielen. Betreffend ehelichen Unterhalt halte Art. 163 Abs. 1 ZGB fest, dass die Ehegatten gemeinsam, ein jeder nach seinen Kräften, für den gebührenden Unterhalt der Familie sorgen. Der Unterhalt umfasse den ganzen Lebensbedarf der Familie. Über den Beitrag, den jeder Ehegatte an den Unterhalt der Familie leiste, hätten sich die Ehegatten nach Art. 163 Abs. 2 ZGB zu verständigen.
Vorliegend hätten sich die Ehegatten dahingehend verständigt, dass der Ehemann seinen Beitrag durch Geldzahlungen erbringe und die Ehefrau den Haushalt besorge und das gemeinsame Kind betreue. Damit seien die Lebenshaltungskosten der Mutter gedeckt; sie habe kein Manko, das über das Institut des Betreuungsunterhalts auszugleichen sei. Das voreheliche Kind habe daher keinen Anspruch auf Betreuungsunterhalt. Anders sehe die Sache für den Zeitraum vor der Heirat aus. Anders als nach Eheschluss, mit welchem die eherechtliche Unterstützungspflicht einsetze, sei für diesen Zeitraum keine gesetzliche Grundlage ersichtlich, gestützt auf welche die Leistungen des späteren Ehemannes angerechnet und den Vater des vorehelichen Kindes von der Leistung von Betreuungsunterhalt entlasten könnte.
Kommentar
Den Erwägungen zur Aktivlegitimation kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Der Autor des vorliegenden Beitrags hat in seiner Kommentierung zum zur Publikation vorgesehenen Urteil 5A_75/2020 vom 12.1.2022 darauf hingewiesen, dass dieses Urteil analog für die erstmalige Unterhaltsfestsetzung für Kinder gelten muss, die von der Sozialhilfe unterstützt werden (siehe damaliger Beitrag). Damit ist die bisherige Praxis einiger Kantone (bspw. Bern und Zürich), welche die alleinige Aktivlegitimation des Kindes vorbehältlich einer Rückzession durch das Gemeinwesen verneinten, obsolet.
Fragwürdig erscheinen die Erwägungen des Bundesgerichts zum Wegfall des Betreuungsunterhalts zufolge Heirat. Diese unterlaufen die Absichten, die der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Revision des Kindesunterhaltsrechts verfolgte. Im Rahmen dieser Revision verlagerte der Gesetzgeber den finanziellen Ausgleich für betreuungsbedingten Erwerbsausfall vom nachehelichen Unterhalt in den Kindesunterhalt, unter anderem, um zu verhindern, dass der Ausgleich bei Wiederverheiratung oder qualifiziertem Konkubinat wegfällt (BBL 2014 552). Auch die Lehre spricht sich gegen einen Wegfall des Betreuungsunterhalts in diesen Situationen aus. Es überrascht, dass sich das Bundesgericht in einem zur Publikation bestimmten Urteil weder mit der Botschaft noch mit der Lehre auseinandersetzt.
Nach Ansicht des Autors kann eine Unterstützung durch den neuen Ehepartner nur dann zum Wegfall des Betreuungsunterhalts führen, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass der obhutsberechtigte Elternteil auch ohne Kind seinen Bedarf vollständig aus ehelichem Unterhalt bestreiten bzw. höchstens zuarbeiten würde. Dann und nur dann ist das Manko nicht betreuungsbedingt und folglich kein Betreuungsunterhalt geschuldet. Davon ist in indes heutzutage nicht mehr ohne Weiteres auszugehen; das Bundesgericht scheint hier ganz anders als in kürzlich ergangenen Urteilen einem antiquierten Rollenverständnis verfallen zu sein.
Sofern man dem Bundesgericht folgen will, scheint es wenig konsequent, den Betreuungsunterhalt bloss bei eherechtlicher und nicht auch bei partnerschaftlicher Unterstützung entfallen zu lassen. Die dafür angeführte Begründung, es sei keine gesetzliche Grundlage für eine Anrechnung der Leistungen für die Zeit vor der Heirat ersichtlich, greift zu kurz. In BGE 138 III 97 E. 2.3.1 hat das Bundesgericht klargestellt, dass sich die Unterhaltsforderung des unterhaltsberechtigten Ehegatten bei finanzieller Unterstützung durch einen neuen Partner im Umfang der tatsächlichen Unterstützungsleistungen vermindert. Das müsste dann konsequenterweise auch für den Betreuungsunterhalt gelten.
Für Anwält:innen lautet die Devise nach dem neuen Bundesgerichtsurteil wie folgt: Klient:innen, die für ein Kind Betreuungsunterhalt beziehen, und Klient:innen, die mit einer solchen Person in einer partnerschaftlichen Beziehung leben, ist von einer Heirat dringend abzuraten. Die zusätzliche finanzielle Belastung für das voreheliche Kind, die der/die neue Partner:in bei Heirat eingeht, dürfte die Partnerschaftssuche für alleinerziehende Eltern erheblich erschweren. Diese Schlussfolgerungen zeigen: Das Urteil muss dringend korrigiert werden.