Im Urteil 5A_800/2022 vom 28. März 2023 gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass Berufungsinstanzen bei Streitigkeiten betreffend den Kindesunterhalt nicht auf eine bevorstehende Schlechterstellung (sog. reformatio in peius) hinweisen müssen.
Zusammenfassung
Im hier besprochenen Urteil hatte das Bundesgericht zu beurteilen, ob Berufungsinstanzen im Verfahren betreffend Kindesunterhalt eine bevorstehende Schlechterstellung (sog. reformatio in peius) ankündigen müssen, um der berufungsführenden Partei die Möglichkeit zu geben, ihre Berufung zurückzuziehen.
Das Bundesgericht sprach sich dagegen aus. Es erwog, in Kinderbelangen gelte der Offizialgrundsatz. Das Gericht entscheide ohne Bindung an die Parteianträge (Art. 296 Abs. 3 ZPO). Das Verschlechterungsverbot, demzufolge die Berufungsinstanz das angefochtene Urteil nicht zu Ungunsten des Berufungsklägers abändern darf, gelte im Anwendungsbereich des Offizialgrundsatzes nicht. Die kantonale Rechtsmittelinstanz könne die Kinderalimente sogar dann erhöhen, wenn diese bei ihr gar nicht mehr streitig seien. Müsste die Berufungsinstanz der berufungsführenden Partei eine für sie nachteilige Abänderung des angefochtenen Unterhaltsentscheids trotzdem ankündigen, damit sie einen ungünstigen Sachentscheid durch Rückzug ihrer Berufung verhindern könne, so wäre der Offizialgrundsatz, der das minderjährige Kind als schwächere Prozesspartei schützen soll, seines Sinnes entleert. Im Zivilprozess gegen ein minderjähriges Kind sei der verfassungsmässige Gehörsanspruch mit anderen Worten nicht dazu da, die Prozessrisiken des unterhaltspflichtigen Elternteils zu begrenzen.
Zudem gelte das Verschlechterungsverbot nicht, wenn — wie hier — Anschlussberufung erhoben werde. Vielmehr stelle das Gesetz der berufungsbeklagten Partei mit der Anschlussberufung bewusst ein Druckmittel zur Verfügung, denn angesichts einer Anschlussberufung könne die berufungsführende Partei eine reformatio in peius nur noch dadurch verhindern, dass sie ihre Berufung zurückziehe. In dieser Situation sei es Sache der berufungsführenden Partei, die Chancen und Risiken des Berufungsverfahrens zu beurteilen. In einem kontradiktorischen Zivilprozess unter Privaten verschaffe ihr der Anspruch auf rechtliches Gehör kein Recht darauf, dass ihr die Berufungsinstanz (einseitig) zu Hilfe eile.
Kommentar
Beabsichtigt ein Gericht auf ein Rechtsmittel hin zu einer reformatio in peius zu schreiten, hat sie die betroffene Partei vorgängig darauf aufmerksam zu machen, damit diese ihr Rechtsmittel zurückziehen kann. Dieser Grundsatz fliesst direkt aus der verfassungsrechtlichen Garantie des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (BGE 129 II 385 E. 4.4.3) und gilt damit auch im Zivilprozess.
Das Bundesgericht erachtet eine Abweichung von diesem Grundsatz beim Kindesunterhalt als angezeigt, weil der Offizialgrundsatz gelte und dieser das minderjährige Kind als schwächere Partei schützen solle. Bei näherer Betrachtung vermag diese Begründung nicht zu überzeugen.
Der Offizialgrundsatz ist Voraussetzung dafür, dass eine reformatio in peius zulasten der berufungsführenden Partei überhaupt möglich ist. Gilt der Dispositionsgrundsatz ist eine reformatio in peius zulasten der berufungsführenden Partei ausgeschlossen, ausser die Gegenpartei erhebe ein Anschlussrechtsmittel. Aus diesem Grund lässt sich der Verzicht auf die Androhung der reformatio in peius nicht mit Verweis auf den Offizialgrundsatz rechtfertigen. Ansonsten müsste die reformatio in peius auch in allen anderen Rechtsgebieten nicht mehr angedroht werden.
Der Hinweis, dass der Offizialgrundsatz im Kindesunterhaltsrecht das minderjährige Kind als schwächere Partei schützen solle, vermag den Verzicht auf die Androhung der reformatio in peius auch nicht zu begründen. Der Offizialgrundsatz im Kindesunterhaltsrecht gilt nicht bloss dann, wenn er sich zugunsten des Kindes auswirkt, sondern auch dann, wenn er sich zugunsten der unterhaltspflichtigen Person (und damit zulasten des Kindes) auswirkt (Urteil BGer 5A_841/2018 vom 12.2.2020 E. 5.2). Entsprechend ist die drohende reformatio in peius auch der unterhaltspflichtigen Person anzuzeigen. Die Schlechterstellung bloss dann anzudrohen, wenn das Kind bzw. der unterhaltsberechtigte Elternteil Berufung führt, lässt sich mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbaren.
Im Ergebnis verdient das Urteil gleichwohl Zustimmung. Nachdem die berufungsbeklagte Partei im vorliegenden Fall Anschlussberufung erhob und die Erhöhung der Kindesunterhaltsbeiträge beantragte, war die berufungsführende Partei auch ohne Hinweis des Gerichts hinreichend vor einer reformatio in peius gewarnt.