4A_221/2025: Anspruch auf Lohnfortzahlung bei Suchterkrankung (amtl. Publ.)

Im zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 4A_221/2025 vom 11. Sep­tem­ber 2025 befasste sich das Bun­des­gericht mit der Frage, ob ein an ein­er Alko­ho­lab­hängigkeit erkrank­ter Arbeit­nehmer nach einem Führerausweisentzug Anspruch auf Lohn­fortzahlung gestützt auf Art. 324a Abs. 1 OR habe. Im Kern ging es um die Frage, ob eine selb­stver­schuldete Arbeitsver­hin­derung dem Anspruch auf Lohn­fortzahlung ent­ge­gen­ste­ht, wenn gle­ichzeit­ig eine unver­schuldete Ver­hin­derung an der Arbeit­sleis­tung vorliegt.

Der Arbeit­nehmer (Beschw­erdegeg­n­er) mit Funk­tion als Ser­vicetech­niker im Aussen­di­enst hat­te am 25. Sep­tem­ber 2022 mit 1,9 Promille Blutalko­hol­ge­halt einen Verkehrsun­fall verur­sacht, welch­er zum sofor­ti­gen Führerausweisentzug und Verurteilung durch die Staat­san­waltschaft geführt hat­te. Von Ende Sep­tem­ber 2022 bis Ende Jan­u­ar 2023 war er infolge diag­nos­tiziert­er Alko­ho­lab­hängigkeit samt teils sta­tionären Behand­lung zu 100% arbeit­sun­fähig. Das Arbeitsver­hält­nis wurde auf Wun­sch des Arbeit­nehmers mit Aufhe­bungsvere­in­barung vom 25. Jan­u­ar 2023 aufge­hoben. Der Beschw­erdegeg­n­er forderte von der Arbeit­ge­berin (Beschw­erde­führerin) klageweise ausste­hende Lohn­zahlun­gen seit 15. Dezem­ber 2022 neb­st Zins zu 5%, welche ihm das erstin­stan­zliche Gericht ab 16. Dezem­ber 2022 neb­st Zins zu 5% zus­prach. Das Urteil wurde zweitin­stan­zlich bestätigt.

Hin­sichtlich des strit­ti­gen Lohn­fortzahlungsanspruchs erwog das Bun­des­gericht, dass die Vorin­stanzen von ein­er im Unfal­lzeit­punkt weit fort­geschrit­te­nen Suchterkrankung aus­ge­gan­gen seien. Die unfal­lverur­sachende Fahrt sei nicht ver­gle­ich­bar mit der­jeni­gen ein­er nicht alko­ho­lab­hängi­gen Per­son, die stark alko­holisiert ein Fahrzeug führe (E. 2.1), Bei Let­zter­er wäre ein Ver­schulden klar­erweise zu beja­hen. Vor­liegend sei auch zuständi­ge Arzt davon aus­ge­gan­gen, dass der Beschw­ere­degeg­n­er infolge der Suchterkrankung zum Unfal­lzeit­punkt nicht mehr in der Lage gewe­sen sei, sein Ver­hal­ten zu kon­trol­lieren und habe deshalb auf­grund von Selb­st- und Fremdge­fährdung eine für­sorg­erische Unter­bringung ange­ord­net. Somit sei der Unfall bzw. der nach­fol­gende Führerausweisentzug eine Folge der schon länger beste­hen­den unver­schulde­ten Suchterkrankung. Selb­st wenn der Führerausweisentzug als selb­stver­schuldet zu betra­cht­en wäre, bliebe es bei der Krankschrei­bung ab dem 26. Sep­tem­ber 2022 infolge der Alko­ho­lab­hängigkeit mit sta­tionär­er Behandlung.

Gemäss den Aus­führun­gen der Vorin­stanz könne für eine Lohn­fortzahlungspflicht nach Art. 324a OR nicht ver­langt wer­den, dass kumu­la­tiv sämtliche Arbeitsver­hin­derun­gen unver­schuldet sein müssten, wenn der unver­schuldete Grund bere­its kausal für die Hin­derung an der Arbeit­sleis­tung sei, auch wenn gle­ichzeit­ig eine ver­schulde­ter Grund vor­liege. Eine der­art strenge Ausle­gung würde der Für­sorgepflicht der Arbeit­ge­berin wider­sprechen (E. 2.1).

Die Beschw­erde­führerin habe demge­genüber vorge­bracht, dass vor­liegend der Beschw­erdegeg­n­er zwar krankheits­be­d­ingt an der Erbringung der Arbeit­sleis­tung ver­hin­dert gewe­sen sei, gle­ichzeit­ig jedoch auch, weil er wissentlich und wil­lentlich alko­holisiert ein Motor­fahrzeug gelenkt habe und ihm infolgedessen der für die Arbeit­sausübung erforder­liche Führerausweis ent­zo­gen wor­den sei. Nach Auf­fas­sung der Beschw­erde­führerin ver­möge eine unver­schuldete Ver­hin­derung an der Arbeit­sleis­tung eine ver­schuldete Arbeitsver­hin­derung nicht zu heilen (E. 2.2).

Dazu erwog das Bun­des­gericht, dass der Anspruch auf Lohn­fortzahlung nach Art. 324a Abs. 1 OR voraus­set­ze, dass der Arbeit­nehmer aus Grün­den, die in sein­er Per­son liegen unver­schuldet an der Arbeit­sleis­tung ver­hin­dert sei; d.h. Krankheit, Unfall, Erfül­lung geset­zlich­er Pflicht­en etc. Eine solche Arbeitsver­hin­derung könne sich auch aus äusseren Umstän­den ergeben, etwa durch für­sorg­erische Unter­bringung oder ange­ord­nete Unter­suchung­shaft, sofern dem Arbeit­nehmer kein Ver­schulden vorge­wor­fen wer­den könne (E. 2.3.1; Gegen­teiliges gelte jedoch i.d.R. im Falle ein­er Verurteilung: BGE 114 II 274 E. 5).

Vor­liegend bilde nicht die aus der Krankheit resul­tierende gesund­heitliche Beein­träch­ti­gung an sich die Voraus­set­zung für den Anspruch auf Lohn­fortzahlung, son­dern die daraus resul­tierende Arbeit­sun­fähigkeit bzw. Unzu­mut­barkeit der Fort­set­zung der Arbeit. Erforder­lich sei ein Kausalzusam­men­hang zwis­chen der krankheits­be­d­ingten Beein­träch­ti­gung und der Arbeit­sun­fähigkeit. Anders als im Sozialver­sicherungsrecht, so das Bun­des­gericht, werde im pri­vat­en Arbeit­srecht für die Beurteilung der Arbeits­fähigkeit nicht auf die Fähigkeit abgestellt, im bish­eri­gen Beruf zumut­bare Arbeit zu leis­ten. Im Anwen­dungs­bere­ich von Art. 324a OR sei vielmehr in erster Lin­ie der Inhalt der ver­traglichen Vere­in­barung zwis­chen Arbeit­nehmer und Arbeit­ge­ber mass­gebend (E. 2.3.1).

Die Frage, ob eine Arbeitsver­hin­derung infolge von Alko­hol- oder Dro­gen­sucht als unver­schuldet zu betra­cht­en sei, müsse im Einzelfall beurteilt wer­den, hielt das Bun­des­gericht weit­er fest. Gleite jemand über län­gere Zeit gle­ich­sam unmerk­lich in eine immer tiefer wer­dende Abhängigkeit ab, sei grund­sät­zlich von fehlen­dem Ver­schulden auszuge­hen. Im konkreten Fall sei zu Recht unstrit­tig, dass es sich bei der Alko­hol­sucht des Beschw­erdegeg­n­ers um eine Krankheit handle.

Weit­er erwog das Bun­des­gericht, dass die Leis­tungspflicht nach Art. 324a OR in jedem Fall einen natür­lichen Kausalzusam­men­hang zwis­chen dem unver­schulde­ten Ver­hin­derungs­grund und dem Aus­bleiben der Arbeit­sleis­tung voraus­set­ze. Dies seien alle Umstände, ohne deren Vorhan­den­sein der einge­tretene Erfolg nicht als einge­treten oder nicht als in der gle­ichen Weise bzw. zur gle­ichen Zeit einge­treten gedacht wer­den könne. Demgemäss sei für die Bejahung des natür­lichen Kausalzusam­men­hangs nicht erforder­lich, dass die Krankheit die alleinige oder unmit­tel­bare Ursache der Arbeitsver­hin­derung sei; es genüge, dass sie zusam­men mit anderen Bedin­gun­gen den Arbeit­nehmer an der Leis­tungser­bringung gehin­dert habe, d.h. nicht weggedacht wer­den könne, ohne dass auch die einge­tretene Arbeitsver­hin­derung ent­fiele (E. 2.3.2).

Lägen mehrere Gründe für eine Arbeitsver­hin­derung vor, so sei pro Zeit­pe­ri­ode zu beurteilen, aus welchem Grund der Arbeit­nehmer an der Arbeit­sleis­tung ver­hin­dert sei und ob der jew­eilige Grund ver­schuldet oder unver­schuldet sei. Könne beispiel­sweise eine Per­son infolge Ver­büs­sung ein­er Frei­heitsstrafe nicht zur Arbeit erscheinen, ste­he ihr zufolge Ver­schuldens kein Anspruch auf Lohn­fortzahlung zu. Erkranke sie nach Antritt des Strafvol­lzugs, ändere die (unver­schuldete) Krankheit nichts an der ver­schulde­ten Arbeitsver­hin­derung. Entsprechend könne der Lohn­fortzahlungsanspruch nicht während des Strafvol­lzugs infolge Krankheit wieder aufleben. Ein Anspruch auf Lohn­fortzahlung würde hinge­gen nachträglich entste­hen, wenn die Per­son bei andauern­der Krankheit aus dem Strafvol­lzug ent­lassen würde, da sie ab diesem Zeit­punkt auf­grund Krankheit an der Arbeit­sleis­tung gehin­dert wäre (E. 2.3.3).

Vor­liegend, erwog das Bun­des­gericht, lägen jedoch keine solchen sich über­lagern­den und unab­hängig voneinan­der beste­hen­den Gründe für eine Arbeitsver­hin­derung vor. Ohne die fort­geschrit­tene Alko­hol­sucht des Beschw­erdegeg­n­ers wäre es nicht zum Verkehrsun­fall mit anschliessender für­sorg­erisch­er Unter­bringung und sta­tionär­er Behand­lung des Arbeit­nehmers gekom­men. Der Führerausweisentzug habe nichts an der bere­its beste­hen­den Arbeitsver­hin­derung infolge Krankheit samt sta­tionär­er medi­zinis­ch­er Behand­lung geän­dert. Der Verkehrsun­fall, die für­sorg­erische Unter­bringung sowie der Führerausweisentzug seien alle­samt ver­schiedene Man­i­fes­ta­tio­nen der schw­eren Alko­hol­sucht, somit ein und der­sel­ben Ursache. Dem­nach sei der Führerausweisentzug nicht ein für sich beste­hen­der unab­hängiger Grund für die Arbeitsver­hin­derung, son­dern lediglich ein weit­eres Glied in der Kausalkette. Der Beschw­erdegeg­n­er sei primär infolge Krankheit und der medi­zinis­chen Ein­weisung mit sta­tionär­er Behand­lung an der Arbeit ver­hin­dert und nicht erst zufolge Führerausweisentzugs. Dem­nach sei der Krankheit­szu­s­tand des Arbeit­nehmers die ursprüngliche und primäre Ursache der Arbeitsver­hin­derung und nicht der Entzug des für die Tätigkeit des Ser­vicetech­nikers voraus­ge­set­zten Führerausweis­es. Es brauche daher nicht ver­tieft zu wer­den, ob der Führerausweisentzug für sich allein genom­men als Arbeitsver­hin­derung im Sinne von Art. 324a Abs. 1 OR zu betra­cht­en wäre (E. 2.3.4).

Infolgedessen kam das Bun­des­gericht zum Schluss, dass die Vorin­stanz Art. 324a Abs. 1 nicht ver­let­zte, indem sie von ein­er krankheits­be­d­ingten Ver­hin­derung an der Arbeit­sleis­tung aus­ge­gan­gen sei und demgemäss eine Lohn­fortzahlungspflicht bejaht habe (E. 2.3.5).