4A_129/2024: Materieller ordre public nach Art. 34 Ziff. 1 LugÜ — Grenzen der Anerkennung ausländischer Urteile

Sachverhalt

Die Beschw­erde­führerin (A. SA), eine in der Schweiz dom­izilierte Gesellschaft, wurde durch ein rumänis­ches Gericht (Tri­bunalul Spe­cial­izat de Cluj) im Jahr 2017 zur Zahlung von ins­ge­samt EUR 159’394.30 neb­st Verzugszin­sen von 0,15 % pro Tag ab dem 10. Juni 2016 verurteilt. Durch Beru­fung wurde das Urteil am 3. Novem­ber 2020 insofern abgeän­dert, dass die Beschw­erde­führerin auf EUR 56’178 für gelieferte Waren und Trans­portkosten sowie EUR 16’080.29 Zin­sen bis zum 9. Juni 2016 verurteilt wurde, zuzüglich der­sel­ben täglichen Verzugszin­sen ab dem 10. Juni 2016. Die gegen dieses Urteil erhobe­nen Rechtsmit­tel wur­den vom Ober­sten Gericht­shof Rumäniens abgewiesen. Im Kan­ton Wal­lis beantragte die Beschw­erdegeg­ner­in (B. S.R.L) die defin­i­tive Recht­söff­nung zur Betrei­bung dieser Forderung, gegen die Beschw­erde­führerin (A. SA) Rechtsvorschlag erhob. Der Bezirk­srichter in Sierre gewährte die Recht­söff­nung teil­weise mit Zin­sanspruch von 35 % jährlich ab 10. Juni 2016 auf einen Betrag von CHF 57’470. Das Kan­ton­s­gericht des Kan­tons Wal­lis bestätigte diese Entschei­dung, präzisierte die Beträge und ord­nete die defin­i­tive Recht­söff­nung auf CHF 16’450 und CHF 57’470 mit Zin­sen von 0,15 % pro Tag ab 10. Juni 2016 an. Gegen diese kan­tonalen Entschei­de erhob die Beschw­erde­führerin (A. SA) Beschw­erde beim Bun­des­gericht. Sie beantragt die Aufhe­bung der vorin­stan­zlichen Entschei­dung (even­tu­aliter die Rück­weisung an die Vorinstanz).

Wesentliche Erwägungen

Das Bun­des­gericht beurteilte die Rüge der Beschw­erde­führerin, dass ein Ver­stoss gegen den materiellen ordre pub­lic nach Art. 34 Ziff. 1 des Lugano Übereinkom­mens (LugÜ) in Bezug auf die Zahlung von Verzugszin­sen von 0.15% pro Tag vor­liege, zu denen sie let­ztin­stan­zlich vom höch­sten rumänis­chen Gericht verurteilt wurde (E. 3).

Das Bun­des­gericht prüfte zunächst die Voraus­set­zun­gen für eine Ver­weigerung der Anerken­nung basierend auf Art. 34 Ziff. 1 des LugÜ, wonach ein aus­ländis­ches Urteil nicht anerkan­nt wird, wenn dies offen­sichtlich gegen den materiellen ordre pub­lic ver­stösst, und machte dabei deut­lich, dass diese Norm Aus­nah­mecharak­ter hat und restrik­tiv auszule­gen ist (E. 4.1).

Ein schw­er­wiegen­der Ver­stoss gegen den materiellen ordre pub­lic liegt nach Auf­fas­sung des Bun­des­gerichts nur dann vor, wenn das aus­ländis­che Urteil in krass­er Weise mit den fun­da­men­tal­en Prinzip­i­en der schweiz­erischen Recht­sor­d­nung unvere­in­bar ist. Die Bes­tim­mung ist restrik­tiv auszule­gen, um die inter­na­tionale Recht­shil­fe nicht unnötig zu beein­trächti­gen (E. 4.1–4.2).

Im vor­liegen­den Fall hat die Beschw­erde­führerin im rumänis­chen Ver­fahren zwar sämtliche (inländis­chen) Rechtsmit­tel bis hin zum ober­sten Gericht Rumäniens erhoben, jedoch die Verzin­sung­shöhe nicht expliz­it gerügt. Das Bun­des­gericht stützt sich nach ständi­ger Recht­sprechung bei der Ausle­gung des LugÜ auf die Recht­sprechung des EuGH zur Verord­nung (EG) Nr. 44/2001 (Brüs­sel-I-Verord­nung; u.a. EuGH-Urteil Dia­geo Brands) sowie auf die ein­schlägige juris­tis­che Lit­er­atur, die fordern, dass ein solch­er materieller ordre pub­lic-Ein­wand zunächst im Ursprungsstaat gel­tend zu machen und durchzuset­zen ist. Nur unter beson­deren Umstän­den kann der ordre pub­lic-Ein­wand erst im Anerken­nungsver­fahren vorge­bracht wer­den, sofern eine frühere Gel­tend­machung nicht möglich oder unzu­mut­bar war. Welche beson­deren Umstände dies im Einzel­nen sein kön­nten, lässt das Bun­des­gericht jedoch offen (E. 4.3–4.6).

Da die Beschw­erde­führerin die explizite Rüge der Verzugszin­shöhe vor den rumänis­chen Instanzen nicht nach­weisen kon­nte, wurde die Rüge, die Ver­let­zung des materiellen ordre pub­lic nach Art. 34 Ziff. 1 LugÜ, vom Bun­des­gericht abgewiesen (E. 4.7).


Weit­er­führende Links: 

BGE 141 III 210 E. 4 und 5.1: Das Bun­des­gericht liess in diesem Entscheid die gegen­ständliche Frage offen und stellte die Frage dabei unter den Gesicht­spunkt von Art. 27 Abs. 2 lit. b IPRG

Urteil des EuGH vom 16. Juli 2015, C‑681/13 (“Dia­geo Brands”), ins­beson­dere Rn. 63, 64 und 68