5A_221/2011: Internationale Zuständigkeit für Anordnung einer Schuldneranweisung (amtl. Publ.)

Welch­es Gericht ist für die Anord­nung ein­er richter­lichen Schuld­ner­an­weisung gemäss Art. 177 und 291 ZGB im inter­na­tionalen Ver­hält­nis zuständig? Zu dieser Frage äussert sich das Bun­des­gericht nun erst­mals in dem für die amtliche Samm­lung vorge­se­henen Urteil 5A_221/2011 vom 31. Okto­ber 2011. Im aus­führlich begrün­de­ten Entscheid kommt es zu dem Schluss, dass die inter­na­tionale Zuständigkeit nach Art. 16 Nr. 5 aLugÜ bzw. Art. 22 Nr. 5 LugÜ bei den Schweiz­er Gericht­en liegt.

Im vor­liegen­den Fall leben die Mut­ter mit den bei­den gemein­samen Söh­nen in Deutsch­land und der Vater in der Schweiz. Es liegt ein Urteil eines deutschen Gerichts vor, das den Beschw­erdegeg­n­er zur Bezahlung von Unter­halt verpflichtet und in der Schweiz für voll­streck­bar erk­lärt wor­den ist. Auf das darauf gestützte Gesuch der durch die Mut­ter vertrete­nen Beschw­erde­führer, den jew­eili­gen Arbeit­ge­ber ihres Vaters zur Über­weisung des monatlichen Lohnes auf ihr Kon­to anzuweisen, trat das schweiz­erische Gericht man­gels örtlich­er Zuständigkeit nicht ein. Die dage­gen ein­gelegte Beschw­erde hat Erfolg.

Zunächst ver­weist das Bun­des­gericht auf seine ständi­ge Recht­sprechung, dass eine Schuld­ner­an­weisung wed­er eine Zivil­sache oder Zwangsvoll­streck­ung noch die Erfül­lung ein­er Verpflich­tung zu einem Tun durch einen Drit­ten ist, son­dern eine priv­i­legierte Zwangsvoll­streck­ungs­mass­nahme sui gener­is darstellt, die an die Stelle ein­er defin­i­tiv­en Recht­söff­nung mit nach­fol­gen­der Pfän­dung tritt und in unmit­tel­barem Zusam­men­hang mit dem Zivil­recht ste­ht, weshalb die Beschw­erde in Zivil­sachen gemäss Art. 72 Abs. 2 lit. b BGG grund­sät­zlich zuläs­sig ist (E. 1.2 und E. 4.1–4.2 m.w.H.). Zudem kann die richter­liche Anweisung auch nicht als vor­sor­gliche Mass­nahme gemäss Art. 98 BGG ange­se­hen wer­den, weil es um die Voll­streck­ung recht­skräftig fest­ge­set­zter Unter­halts­beiträge geht, worüber das zuständi­ge Gericht ohne Vor­be­halt eines nach­fol­gen­den Hauptver­fahrens entschei­det, so dass das ordentliche Beschw­erde­v­er­fahren mass­gebend ist (E. 1.3 und 4.2 m.w.H.).

Zur Recht­snatur der Schuld­ner­an­weisung heisst es in dem Urteil:

4.1 […] Die Zwangsvoll­streck­ung nach Art. 291 ZGB sei — wie diejenige nach Art. 177 ZGB — in dem Sinne priv­i­legiert, als sie wed­er der vorgängi­gen Zustel­lung eines Zahlungs­be­fehls noch den Fris­ten für den Vol­lzug der Pfän­dung unter­wor­fen sei. Auch unter­ste­he sie nicht der Kon­trolle der Pfän­dung durch die Auf­sichts­be­hör­den und kenne keine Konkur­renz der Pfän­dungs­gläu­biger. Schliesslich ermögliche sie dem Gläu­biger die Zwangsvoll­streck­ung nicht nur für fäl­lige Forderun­gen, son­dern ohne neues Begehren auch für die laufend­en Verpflich­tun­gen des Ali­menten­schuld­ners. Wie das Bun­des­gericht betonte, ändern diese Modal­itäten aber nichts an der Recht­snatur der Mass­nahme, näm­lich der Zahlung ein­er Schuld gegen den Willen des Schuldners […].

Im Anschluss unter­sucht das Bun­des­gericht, ob die Stre­it­frage der inter­na­tionalen Zuständigkeit allen­falls in einem völk­er­rechtlichen Ver­trag geregelt ist. Es erken­nt darauf, dass die beson­deren Haager Übereinkom­men (MSA, UStÜ, UVÜ und weit­ere Abkom­men) insoweit nicht ein­schlägig sind (E. 2.1–2.2, 5.1–5.4 und 6.1–6.3 m.w.H.). Stattdessen ist das (alte und neue) Lugano-Übereinkom­men (LugÜ) anwend­bar, wobei zu beacht­en ist, dass die betr­e­f­fend­en Bes­tim­mungen der über­holten und der rev­i­dierten Fas­sung (Art. 16 Nr. 5 aLugÜ bzw. Art. 22 Nr. 5 LugÜ) inhaltlich übere­in­stim­men (E. 7.1.1–7.2.4 m.w.H.).

Zur Anwend­barkeit des LugÜ auf die Schuld­ner­an­weisung hält das Gericht fest: 

7.2.4 […] Für Ver­fahren, welche die Zwangsvoll­streck­ung aus Entschei­dun­gen zum Gegen­stand haben, bes­timmt das Lugano-Übereinkom­men in Art. 16 Nr. 5 aLugÜ, dass die Gerichte des Ver­tragsstaats, in dessen Hoheits­ge­bi­et die Zwangsvoll­streck­ung durchge­führt wer­den soll oder durchge­führt wor­den ist, ohne Rück­sicht auf den Wohn­sitz auss­chliesslich zuständig sind. Der Grund für die auss­chliessliche Zuständigkeit der Gerichte des Voll­streck­ungsstaates liegt darin, dass es Sache der Gerichte desjeni­gen Ver­tragsstaats sein soll, in dessen Hoheits­ge­bi­et die Zwangsvoll­streck­ung durchge­führt wird, die Vorschriften über die Tätigkeit der Voll­streck­ungs­be­hör­den anzuwen­den […]. Der Grund­satz der Ter­ri­to­ri­al­ität fusst auf dem Sou­veränität­sprinzip, das umgekehrt auch aus­ländis­chen Voll­streck­ung­sor­ga­nen eine hoheitliche Tätigkeit auf frem­dem Gebi­et ver­bi­etet […]. Den Mate­ri­alien zufolge fall­en unter Art. 16 Nr. 5 aLugÜ all jene Ver­fahren, die sich aus der Inanspruch­nahme von Zwangsmit­teln, ins­beson­dere bei der Her­aus­gabe oder Pfän­dung von beweglichen oder unbe­weglichen Sachen im Hin­blick auf die Voll­streck­ung von Entschei­dun­gen und Urkun­den ergeben […]. Gemeint sind kon­tradik­torische Ver­fahren, in denen es um die gerichtliche Anord­nung oder Über­prü­fung eigentlich­er Voll­streck­ungs­mass­nah­men geht, die also einen unmit­tel­baren Bezug zur Zwangsvoll­streck­ung aufweisen […]. Entsprechend der Natur eines solchen Voll­streck­ungsver­fahrens set­zt Art. 16 Nr. 5 aLugÜ das Vorhan­den­sein eines Voll­streck­ungsti­tels voraus […].

Die Schuld­ner­an­weisung, um deren Anord­nung die Beschw­erde­führer in casu ersucht­en, ist eine Mass­nahme, die dazu dient, die Zahlung ein­er voll­streck­bar erk­lärten Schuld gegen den Willen des Schuld­ners zu erwirken. Denn die Geld­mit­tel, die zur Tilgung der Unter­halts­forderung erforder­lich sind, sollen zwangsweise aus dem Ver­mö­gen des Ali­menten­schuld­ners in das­jenige des Gläu­bigers über­führt wer­den (E. 4.1 und 7.2.4).

Aus diesem Grund kommt das Bun­des­gericht zu fol­gen­dem Ergeb­nis:

7.2.4 […] Das Ver­fahren um Anord­nung ein­er Schuld­ner­an­weisung nach Art. 291 ZGB ist deshalb als Zwangsvoll­streck­ungsver­fahren im Sinne von Art. 16 Nr. 5 aLugÜ anzuse­hen. […] Ist näm­lich das Ver­fahren der defin­i­tiv­en Recht­söff­nung (Art. 80 f. SchKG) ein­schliesslich des ihm vorge­lagerten Zahlungs­be­fehlsver­fahrens nach ein­hel­liger Auf­fas­sung ein Titelvoll­streck­ungsver­fahren, das unter Art. 16 Nr. 5 aLugÜ fällt […], so muss dies auch für die Schuld­ner­an­weisung gel­ten, die im Sinne ein­er priv­i­legierten Zwangsvoll­streck­ungs­mass­nahme sui gener­is an die Stelle der defin­i­tiv­en Recht­söff­nung tritt.