5A_423/2011: Anerkennungsübereinkommen CH/It; Einwand der Rechtshängigkeit: Kernpunkttheorie (amtl. Publ.)

Das vor­liegende Ver­fahren betraf die Zuständigkeit der Gen­fer Gerichte für eine neg­a­tive Fest­stel­lungsklage. Hin­ter­grund war eine Vere­in­barung zwis­chen Mut­ter und Tochter im Zusam­men­hang mit der Aufteilung der Erb­schaft des 2003 in Turin ver­stor­be­nen Vaters/Ehemanns (nach den Angaben um Urteil kann es sich nur um Gian­ni Agnel­li han­deln). Die Parteien hat­ten mit ein­er Sal­dok­lausel die Zuteilung des Nach­lass­es geregelt und einen späteren Erb­ver­trag vorge­se­hen. Die Parteien vere­in­barten die Zuständigkeit der Gen­fer Gerichte. Später klagte die Tochter in Turin gegen die Mut­ter, weil ihr Nach­lass­werte ver­heim­licht wor­den seien. Die Turiner Gerichte erk­lärten sich für zuständig. Das LugÜ sei nicht anwend­bar, weil die Vere­in­barung das Gebi­et des Erbrechts i.S.v. LugÜ 1 II a betreffe. 

Daraufhin klagte die Mut­ter in Genf auf Fest­stel­lung der Gültigkeit der bewussten Vere­in­barung. Auf diese Klage wurde nicht einge­treten. Auf Beschw­erde gegen den Nichtein­tretensentscheid hält das BGer zunächst fest, dass die Vere­in­barung zwis­chen Erben das Gebi­et des Erbrechts betr­e­ffe:

Bien que la ques­tion appa­raisse con­tro­ver­sée, il faut recon­naître une nature suc­ces­so­rale au sens de l’art. 1er al. 2 ch. 1 aCL aux lit­iges relat­ifs à la valid­ité et aux effets des con­ven­tions entre héri­tiers ([…]); bien qu’elle n’ait pas eu à tranch­er ce point, la Cour de céans partage cette posi­tion (cf. ATF 137 III 369 con­sid. 4.3 et les cita­tions). En out­re, les claus­es de cet accord ont, pour l’essen­tiel, un con­tenu indu­bitable­ment suc­ces­so­ral (cf. supra, let. B); par ailleurs, en droit suisse — applic­a­ble à l’ac­cord litigieux -, la trans­ac­tion extra­ju­di­ci­aire n’a en principe pas d’ef­fet nova­toire et, par­tant, n’a pas pour effet de rem­plac­er la cause orig­i­naire (suc­ces­so­rale) par une nou­velle, qui serait ici obligationnelle ([…]).

Da damit das LugÜ nicht anwend­bar war, war der Stre­it auf der Grund­lage des Abkom­mens zwis­chen der Schweiz und Ital­ien über die Anerken­nung und Voll­streck­ung gerichtlich­er Entschei­dun­gen zu beurteilen. Dieses Abkom­men regelt zwar an sich nur die Anerken­nung. Sein Art. 8 bet­rifft jedoch den Ein­wand der Litispendenz, der hier rel­e­vant war. 

Dabei bet­rifft der Ein­wand der Litispendenz nicht eine Frage der örtlichen Zuständigkeit, son­dern den Nichtein­tretens­grund der früheren ander­weit­i­gen Recht­shängigkeit. Infolgedessen kann das Zweit­gericht den Ein­wand der früheren aus­ländis­chen Recht­shängigkeit nicht dadurch entkräften, dass es die örtliche Zuständigkeit des Erst­gerichts bestre­it­et (hier kon­nte diese fehlen, weil sich das Turiner Gericht trotz der Gerichts­standswahl zugun­sten der Gen­fer Gerichte für Zuständigkeit erachtet hat­te). Eine allfäl­lige örtliche Unzuständigkeit des Erst­gerichts kann sich vielmehr erst im Anerken­nungsver­fahren auswirken.

Weit­er hielt das BGer fest, dass die Gen­fer Gerichte die auch unter Art. 8 des  mass­ge­blichen Abkom­mens CH/It erforder­liche Iden­tität des Stre­it­ge­gen­stands zu Recht bejaht hat­ten. Die Vorin­stanzen hat­ten sich – so das BGer – dem gemein­schaft­srechtlichen Ver­ständ­nis des Stre­it­ge­gen­stands [Kern­punk­t­the­o­rie] angeschlossen, wenn auch ohne dies aus­drück­lich festzuhal­ten. Das BGer schützt die Über­nahme dieses Ver­ständ­niss­es für das Abkom­men CH/It:

Cette con­cep­tion uni­taire de l’i­den­tité d’ob­jet doit être approu­vée. Elle est d’abord jus­ti­fiée par le but com­mun que pour­suiv­ent les normes con­sacrées à la litispen­dance — qu’elle soit interne ou inter­na­tionale -, à savoir d’éviter des juge­ments con­tra­dic­toires lorsque des deman­des iden­tiques sont déposées à plusieurs endroits (notam­ment: ATF 128 III 284 con­sid. 3b/bb et les références). Elle appa­raît en out­re con­forme à la jurispru­dence récente selon laque­lle la «notion d’i­den­tité d’ob­jet doit être com­prise de la même manière en droit interne et en droit inter­na­tion­al privé» (arrêt 5C.289/2006 préc­ité; […]). Il s’en­suit que l’art. 8 de la Con­ven­tion ita­lo-suisse doit être inter­prété à la lumière des principes qui précè­dent. A cet égard, on peut relever que la Cour de cas­sa­tion ital­i­enne, dans une déci­sion du 17 mai 2002, a con­sid­éré que la notion d’«identità di ogget­to» au sens de la Con­ven­tion du 6 avril 1962 entre l’I­tal­ie et la Bel­gique devait être «inter­pre­ta­ta in base all’ori­en­ta­men­to segui­to nel­la inter­pre­tazione del­l’art. 21 del­la con­ven­zione di Brux­elles del 1968» (RDIPP 2002 p. 1061 ss, 1066/1067 con­sid. 2); cela étant, on peut penser qu’elle inter­préterait de la même manière l’art. 8 de la Con­ven­tion avec la Suisse.

Die Klage in Turin zielte auf die Erb­berech­ti­gung und ‑teilung, was die in Genf als gültig festzustel­lende Vere­in­barung in Frage gestellt hätte. Damit lag die erforder­liche Iden­tität vor, obwohl die Gültigkeit der Vere­in­barung im Turiner Prozess nur vor­frageweise zu beurteilen war.

Der Ein­wand der Recht­shängigkeit nach Art. 8 des Abkom­mens CH/It set­zt schliesslich voraus, dass das Erst­gericht “nach Mass­gabe der Bes­tim­mungen des gegen­wär­ti­gen Abkom­mens” zuständig ist. Dieses Erforder­nis bezieht sich nicht auf die Zuständigkeit nach der in Ital­ien vor­frageweise zu beurteilen­den Vere­in­barung, son­dern nach dem Rechts­begehren, das auf die Erb­berech­ti­gung und ‑teilung zielte (das BGer begrün­det diese Auf­fas­sung nicht). Nach Art. 2 Ziff. 6 des Abkom­mens ist die Zuständigkeit “in Erb­schaftsstre­it­igkeit­en zwis­chen den Erben eines Ange­höri­gen des Lan­des, in dem die Entschei­dung gefällt wurde” begrün­det, was hier zutr­e­f­fend war. Doch selb­st wenn die Zuständigkeit nicht für das Rechts­begehren, son­dern für die Beurteilung der bewussten Vere­in­barung zu prüfen wäre, bliebe das Ergeb­nis das­selbe, weil sich eine Gerichts­stand­sklausel auch dann nicht auswirken kön­nte. Das ist eine Folge davon, dass Art. 2 Abs. 3 des Abkom­mens CH/It eine Sper­rwirkung der auss­chliesslichen Zuständigkeit eines anderen Staates (hier: CH) mit Bezug auf die Zuständigkeit nach Ziff. 6 nicht anerken­nt (son­dern nur für Ziff. 1–4).

Zulet­zt set­zt Art. 8 des Abkom­mens – anders als IPRG 9 I – nicht voraus, dass das Urteil des Erst­gerichts im Staat des Zweit­gerichts anerken­nungs­fähig ist.

Im Ergeb­nis war der Nichtein­tretensentscheid der Gen­fer Gerichte also kor­rekt. Nach Art. 8 des Abkom­mens führt der Ein­wand der ander­weit­i­gen früheren Recht­shängigkeit zum Nichtein­treten, nicht nur zur Sus­pendierung des Ver­fahrens. Ent­ge­gen einem Tessin­er Urteil beste­ht kein Grund, vom Wort­laut abzuweichen.