Für welchen Zeitraum kann eine rückwirkende Teilnehmeridentifikation eines Internetanschlusses (IP-Adresse) verfügt werden? Zu dieser Frage äussert sich das Bundesgericht in dem für die amtliche Sammlung bestimmten Urteil 1B_481/2012 vom 22. Januar 2013. Es heisst darin die Beschwerde der Aargauer Staatsanwaltschaft gegen einen Nichtbewilligungsbescheid des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau gut und genehmigt die rückwirkende Internet-Teilnehmeridentifikation.
Besteht der dringende Verdacht für ein Verbrechen oder Vergehen (oder eine Übertretung nach Art. 179septies StGB), und sind die Voraussetzungen von Art. 269 Abs. 1 lit. b und c StPO erfüllt, kann die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 273 StPO Auskunft über sog. Randdaten verlangen: Sie kann erfragen, wann und mit welchen Personen oder Anschlüssen die überwachte Person über den Post- oder Fernmeldeverkehr Verbindung hat oder gehabt hat sowie über Verkehrs- und Rechnungsdaten (Abs. 1). Die Anordnung muss durch das Zwangsmassnahmengericht genehmigt werden (Abs. 2). Die entsprechenden Auskünfte können unabhängig von der Dauer der Überwachung und bis sechs Monate rückwirkend verlangt werden (Abs. 3).
Zusätzlich bestimmt Art. 14 Abs. 4 BÜPF für die strafrechtliche Verfolgung von Internetdelikten, dass die Internet-Anbieterin (Providerin) verpflichtet ist, der zuständigen Behörde alle Angaben zu machen, die eine Identifikation des Urhebers ermöglichen (vgl. auch Art. 24b und Art. 27 VÜPF […]).
Die Vorinstanz verwies darauf, dass die sechsmonatige Frist von Art. 273 Abs. 3 StPO abgelaufen sei. Demgegenüber vertrat die beschwerdeführerende Staatsanwaltschaft die Ansicht, die Sechsmonats-Regel stelle keine “Gültigkeitsvorschrift” für die Zulässigkeit einer rückwirkenden Randdatenerhebung dar.
Das Bundesgericht hält zur rückwirkenden Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs fest:
4.6 […] Mit der Sechsmonats-Regel von Art. 273 Abs. 3 StPO wird einerseits sichergestellt, dass rückwirkende Überwachungen nicht beliebig lange dauern können. Anderseits wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Fernmeldedienstanbieter (gemäss Art. 12 Abs. 2 und Art. 15 Abs. 3 BÜPF) verwaltungsrechtlich nicht verpflichtet sind, die Randdaten länger als sechs Monate zu speichern […]. Die zur Rechnungsstellung der Anbieter gegenüber ihrer Kundschaft benötigten Daten dürfen demgegenüber (gemäss Art. 80 FDV […]) grundsätzlich länger aufbewahrt werden.
Weder das Gesetz noch die Botschaft äussern sich zu dem Fall, dass die Anbieter, insbesondere ein Internet-Provider, untersuchungsrelevante Randdaten freiwillig über einen länger zurückliegenden Zeitraum aufbewahrt haben:
4.7 […] In der Fachliteratur zu den Fernmeldedienst-Überwachungen wird dargelegt, dass schon die altrechtliche (betreffend Randdatenerhebungen strengere) Praxis zu Art. 5 aBÜPF nicht einheitlich war. Während die Fernmeldedienstanbieter sich auf den Standpunkt gestellt hätten, es seien ausschliesslich Daten zu liefern, die (vom Zeitpunkt der Überwachungsverfügung an gerechnet) vor nicht länger als sechs Monaten angefallen waren, hätten die Justizbehörden gelegentlich auch Randdatenerhebungen bewilligt, welche einen weiter zurückliegenden Zeitraum von jeweils sechs Monaten Dauer betrafen […].
Zur umstrittenen Rechtsnatur der in Art. 273 Abs. 3 StPO statuierten Frist von sechs Monaten meint das Bundesgericht:
4.8 […] Es wird die Auffassung vertreten, die Frist sei streng einzuhalten, selbst wenn die Anbieterin auch über ältere Daten verfügen sollte […]. Andere Autoren erachten die Frist als blosse Ordnungsvorschrift […]. Beide Auffassungen dürften so nicht zutreffen. Vielmehr dürfte Art. 273 Abs. 3 StPO dahin auszulegen sein, dass diese Bestimmung (unter den Voraussetzungen von Art. 273 Abs. 1 StPO) in jedem Fall und ohne weitere Begründung die rückwirkende Erhebung bis 6 Monate erlaubt und, wenn es besondere Gründe rechtfertigen, auch für einen längeren Zeitraum […].
Im vorliegenden Fall musste nicht geprüft werden, ob solche besonderen Gründe vorliegen:
4.8 […] Nach dem Gesagten geht es um eine über das Internet begangene Straftat. Insoweit kommt Art. 14 Abs. 4 BÜPF zur Anwendung. Diese Bestimmung geht Art. 273 Abs. 3 StPO als “lex specialis” vor. Art. 14 Abs. 4 BÜPF sieht keine zeitliche Befristung für die rückwirkende Erhebung von Daten vor. Die von der Beschwerdeführerin […] verfügte rückwirkende Teilnehmeridentifikation ist daher zulässig.