In BGE 144 III 175 (hier der Beitrag von swissblawg) hatte das Bundesgericht seine Rechtsprechung zum erforderlichen Rechtsschutzinteresse bei negativen Feststellungsklagen in internationalen Verhältnissen abgeändert und festgestellt, dass im internationalen Verhältnis (unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs) das Interesse des Feststellungsklägers, bei bevorstehenden Gerichtsverfahren einen ihm genehmen Gerichtsstand zu sichern, als genügendes Rechtsschutzinteresse zu qualifizieren sei (BGE 144 III 175, E. 5.2–5.4).
Zur Erinnerung: Hintergrund des Verfahrens war der Entscheid eines Uhren-Konzerns, ein selektives Vertriebssystem einzuführen und dabei die Zusammenarbeit mit einer Grosshändlerin (der Beklagten) einzustellen. Die Beklagte forderte drei Unternehmen des Uhren-Konzerns (die Klägerinnen) mit einer “Notice of Termination of Wholesale Supplies — Letter Before Action” auf, bis zum 6. April 2016 die Wiederaufnahme der Belieferung zu bestätigten. Andernfalls würde sie ohne weitere Ankündigung Klage wegen Verstoss gegen das europäische Kartellrecht einleiten. Nachdem die Beklagte auf Ersuchen einer der Klägerinnen diese Frist bis zum 20. April 2016 erstreckte, leiteten die Klägerinnen am 19. April 2016 eine negative Feststellungsklage beim Handelsgericht des Kantons Bern ein, woraufhin die Beklagte am High Court of Justice in London am 29. April 2016 gegen die Klägerinnen klagte.
Nach dem vorerwähnten Entscheid des Bundesgerichts bejahte das Handelsgericht Bern in der Folge seine internationale und örtliche Zuständigkeit hinsichtlich der Klägerin 1, trat indessen mit Bezug auf die Klägerinnen 2 und 3 auf die Klage nicht ein. Darauffhin wurde das Bundesgericht in dieser Sache erneut angerufen.
Die Beklagte warf den Klägerinnen zunächst vor, sie hätten ihre Wahlmöglichkeiten nach Art. 5 Ziff. 3 LugÜ rechtsmissbräuchlicher genutzt. Insbesondere seien keine überzeugenden Gründe genannt worden, weshalb die Klägerinnen versucht hätten, der Bekalgten zuvorzukommen und in der Schweriz eine negative Feststellungsklage einzureichen. Es sei sogar eine Fristerstreckung beantragt worden und ein Tag vor Ablauf der erstreckten Frist sei in treuwidriger Weise die negative Feststellungsklage eingereicht worden.
Das Bundesgericht stellte zunächst klar, dass es — entgegen der Klägerin 1 — in BGE 144 III 175 die behauptete Missbräuchlichkeit nicht beurteilt hätte. Es habe einzig festgestellt (E. 3.2)
dass im internationalen Verhältnis das Interesse des Feststellungsklägers, bei bevorstehendem Gerichtsverfahren einen ihm genehmen Gerichtsstand zu sichern […] bzw. dessen Verfolgung als solches nicht rechtsmissbräuchlich ist. Auch wenn der Feststellungskläger sich somit durch Klageerhebung vor der Gegenseite einen ihm genehmen Gerichtsstand sichern darf (vereinfachend als forum running bezeichnet), kann das Vorgehen eines Klägers zur Sicherung eines solchen Gerichtsstands aufgrund der konkreten Umständen des Einzelfalls dennoch rechtsmissbräuchlich sein.
In der Sache erwog das Bundesgericht sodann, dass die vorinstanzliche Beurteilung der Motive der Klägerinnen anlässlich des gestellten Fristerstreckungsgesuchs auf Beweiswürdigung beruhe, die mittels einer entsprechenden Willkürrüge angefochten werden müssten (E. 3.3.2 und E. 3.3.2.1). Der Beklagten sei der Nachweis eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Klägerinnen nicht gelungen (E. 3.3.2.2 und E. 3.3.3). Diese Frage könne jedoch letztlich offen bleiben, da das Fristerstreckungsgesuch bei der Beklagten keine schutzwürdige und später enttäuschte Erwartungen habe begründen können. Denn (E. 3.3.3):
Bei allen Beteiligten handelt es sich um geschäftserfahrene Parteien. Auch die Beklagte war bereits anwaltlich beraten; entsprechend stammte das Abmahnungsschreiben vom 16. März 2016 von ihren englischen Anwälten. In der Lehre wird darauf hingewiesen, das forum shopping gehöre zur Checkliste eines international tätigen Anwalts bei der Prozessvorbereitung (…). Die Möglichkeit bzw. Gefahr des forum running war daher zweifellos auch der Beklagten bewusst. Es wäre ihr denn auch freigestanden, zum Beispiel die gewährte Fristerstreckung an Bedingungen zu knüpfen. Im Übrigen bestand die Gefahr des forum runnings nicht erst mit der gewährten Fristerstreckung für die Beantwortung des “Letters Before Action”, sondern die Beklagte konnte grundsätzlich auch bereits während der ursprünglich gewährten Frist nicht ausschliessen, dass die Klägerinnen während dieser Frist eine negative Feststellungsklage einleiten.
Unter Hinweis auf BGE 133 III 282 rügte die Beklagte weiter, die Vorinstanz hätte verkannt, dass es vorliegend an dem von der Rechtsprechung verlangten zusätzlichen Erfordernis einer Sach- und Beweisnähe des angerufenen Gerichts bedürfe, damit sich auch der Feststellungskläger und angebliche Schädiger auf den Deliktsgerichtsstand nach Art. 5 Ziff. 3 LugÜ berufen könne (E. 4.1).
Das Bundesgericht verwarf auch diese Rüge. Mit Blick auf die in der überwiegenden Lehre geäusserten Kritik zu BGE 133 III 282 und der Praxis des EuGH sah es die Voraussetzungen für eine Praxisänderung als erfüllt und verneinte das Erfordernis dieses zusätzlichen Erfordernisses (E. 4.1.2):
Am zusätzlichen Erfordernis der Sach- und Beweisnähe zur Einschränkung des aufgrund des Handlungs- oder Erfolgsorts grundsätzlich gegebenen Gerichtsstands im Einzelfall ist nicht festzuhalten. Ist ein Handlungs- oder Erfolgsort identifiziert, bleibt somit kein Raum mehr für eine einzelfallbezogene Prüfung der Sach- und Beweisnähe
Die Beklagte rügte sodann eine Verletzung des sog. Spiegelbildprinzips. Da eine Leistungsklage nicht nach Art. 5 Ziff. 3 LugÜ in der Schweiz hätte eingereicht werden können, bestehe auch kein Gerichtsstand nach derselben Bestimmung für die negative Feststellungsklage. Die Beklagte berief sich dabei auf folgende Erwägung (BGE 133 III 282, E. 4.2):
Die Klage auf Feststellung, dass die Klägerin für den von den Beklagten zum Ersatz beanspruchten Schaden nicht hafte, betrifft im Lichte von Art. 21 [a]LugÜ [Art. 27 LugÜ] denselben Anspruch wie die spiegelbildliche Klage der Gegenpartei auf Feststellung, dass die Klägerin für diesen Schaden hafte. Daher ist die negative Feststellungsklage, sofern der besondere Gerichtsstand von Art. 5 Ziff. 3 [a]LugÜ [Art. 5 Ziff. 3 LugÜ] gewählt wird, dort anzubringen, wo der bestrittene Anspruch nach Massgabe dieser Bestimmung auf positive Leistungsklage hin zu beurteilen wäre (BGE 125 III 346 E. 4b S. 349 mit Hinweisen).
Das Bundesgericht räumte ein, dass diese Formulierung missverständlich sei. Es hätte die Zuständigkeit des schweizerischen Gerichts mit dem wegen fehlendem Sach- und Beweisnähe nicht gegebenen Handlungsort in der Schweiz verneint und nicht mit dem Sitz der Kläger in der Schweiz. Mit der von der Beklagten zitierten etwas unklaren Formulierung hätte einzig gesagt werden sollen, der Feststellungskläger könne sich wie der Leistungskläger auf die Wahlgerichtsstände gemäss Art. 5 Ziff. 3 LugÜ berufen (E. 4.2.3).
Umstritten war in diesem Verfahren weiter, ob sich die Beklagte beim Handelsgericht Bern eingelassen hatte. Unter Hinweis auf BGE 133 III 295, E. 5.1, rief das Bundesgericht in Erinnerung, dass unter Einlassung jede Verteidigung zu verstehen sei, die unmittelbar auf Klageabweisung abziele. Und weiter (E. 6.1.2):
Art. 24 LugÜ setzt nicht eine Einlassung in der Hauptsache voraus. Denn nach dessen Wortlaut genügt die “Einlassung auf das Verfahren”. Deshalb können bereits Einwendungen und Einreden, die lediglich das Verfahren betreffen, eine Einlassung gemäss Art. 24 LugÜ darstellen. (…) Eine ausdrückliche Rüge des Fehlens der internationalen Zuständigkeit ist nach Art. 24 LugÜ nicht erforderlich. Es genügt, dass der Kläger und das Gericht schon bei der ersten Einlassung des Beklagten erkennen können, dass er sich gegen die Zuständigkeit des Gerichts richtet (…). Keine Einlassung ist deshalb anzunehmen, wenn der Beklagte behauptet, nicht der inländischen Gerichtsbarkeit zu unterfallen; denn damit bestreitet er jegliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts (…)
Vorliegend erwog das Bundesgericht, dass die Beklagte geltend gemacht hätte, die Klage sei rechtsmissbräuchlich und erfülle das Erfordernis der Sach- und Beweisnähe nicht. Zwar hätte die Beklagte diese Fragen unter dem Titel des Feststellungsinteresses thematisiert, dies sei indessen nicht entscheidend. Mit ihren Ausführungen hätte die Beklagte vorgebracht, nicht der inländischen Gerichtsbarkeit zu unterstehen. Damit hätte sie sich nicht auf das vorinstanzliche Verfahren eingelassen (E. 6.1.3).
Umstritten war schliesslich die internationale bzw. örtliche Zuständigkeit der Klägerin 2 (eine Konzerntochter mit Sitz in Grenchen) und der Klägerin 3 (eine Konzerntochter mit Sitz in London). Die Vorinstanz hatte diese verneint, da der Ort, an dem das selektive Vertriebssystem beschlossen worden sei (am Sitz der Klägerin 1 als Konzernmutter), der Handlungsort im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 LugÜ darstelle und unklar sei, ob die Klägerinnen 2 und 3 am Beschluss mitgewirkt hätten (E. 6.2).
Das Bundesgericht verwarf diese Erwägungen und bejahte die Zuständigkeit der Vorinstanz auch für die Klägerinnen 2 und 3. Es verwies zunächst auf den EuGH, der bei einem horizontalen Kartell eine zuständigkeitsbegründende Handlungsortzurechnung für angebliche Schädiger, die am betreffenden Ort nicht gehandelt hätten, bejaht hatte. In einem anderen Urteil entschied der EuGH, dass bei einer Abrede gemäss Art. 101 AEUV der Ort des Abschlusses dieser Abrede Handlungsort sein könne. Im Falle der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung gemäss Art. 102 AEUV komme es auf die zur praktischen Umsetzung vorgenommenen Handlungen zur Verwirklichung dieser Ausnutzung an (E. 7.2.1).
Da vorliegend, so das Bundesgericht weiter, aufgrund des Konzernprivilegs eine Vereinbarung unter Konzerngesellschaften den Wettbewerb nicht einschränken könne (E. 7.2.2), sei zu prüfen, ob die Klägerinnen 2 und 3 zusammen mit der Muttergesellschaft (der Klägerin 1) eine marktbeherrschende Stellung innehaben und diese durch die Nichtbelieferung der Beklagten im Sinne von Art. 102 AEUV bzw. des nach Darstellung der Parteien parallelen englischen Rechts missbraucht hätten (E. 7.2.3).
Um verschiedene Handlungsorte zu vermeiden, müsse jene Handlung bestimmt werden, dem für die Umsetzung der Konzernstrategie eine besonders grosse Bedeutung zukomme. Vorliegend sei der Beschluss der erweiterten Konzernleitung am Sitz der Klägerin 1 zur Einführung des selektiven Vertriebssystems die zentrale Handlung, und nicht eine blosse Vorbereitungshandlung. Die Klägerinnen 2 und 3 hätten offensichtlich nicht selbständig über die zu treffenden Massnahmen (Lieferstopps etc.) entschieden. Vielmehr hätten sie die beschlossene Konzernstrategie bloss ausgeführt. Würde auf die Umsetzung der Konzernstrateige in den verschiedenen Tochtergesellschaften abgestellt, ergäben sich zahlreiche unterschiedliche Handlungen (E. 7.2.3). Gestützt darauf folgerte das Bundesgericht (E. 7.2.3):
dass es entgegen der Vorinstanz nicht darauf ankommen kann, ob Vertreter der Tochtergesellschaften als Mitglieder der Erweiterten Konzernleitung bei der Beschlussfassung in Biel anwesend waren und mitgewirkt haben und — was bei einer von der Konzernstruktur abstrahierenden Betrachtungsweise wohl vorausgesetzt werden müsste — anschliessend das formelle Einverständnis des jeweiligen Verwaltungsrats der Klägerinnen 2 und 3 bzw. der jeweiligen Geschäftsleitung mit der von der Konzernleitung beschlossenen Strategie mitgeteilt haben. Dies würde auf eine “formalistische Ritualhandlung ohne Inhalt ” (…) hinauslaufen. Biel ist daher auch Handlungsort für die Klägerinnen 2 und 3.
Und weiter (E. 7.2.4):
Der Vorwurf der Beklagten an die Klägerinnen, mit der Einführung eines selektiven Vertriebssystems ein wettbewerbswidriges Verhalten beschlossen und durchgeführt zu haben, trifft sowohl die Klägerin 1 als auch ihre Tochtergesellschaften. Er gründet mithin insbesondere in deren Zusammenwirken. Vor diesem Hintergrund muss es, mit dem Ziel widersprüchliche Urteile bzw. Doppelspurigkeiten zu vermeiden, den Klägerinnen auch möglich sein, gemeinsam eine negative Feststellungsklage an demselben zentralen Handlungsort — nämlich dem Ort des Strategieentscheids — geltend zu machen.
Die Angelegenheit wurde damit an das Handelsgericht Bern zum Entscheid in der Sache gegenüber sämtlichen drei Klägerinnen zurückgewiesen.