4A_98/2020: Missachtung statutarischer Vorzugsrechte bei Partizipationsscheinen (amtl. Publ.)

Dem Bun­des­gericht bot sich in diesem Urteil die Gele­gen­heit, sich zur bis­lang in der Lehre umstrit­te­nen Frage zu äussern, in welchem Zeit­punkt und unter welchen Voraus­set­zun­gen ein Forderungsrecht der priv­i­legierten Aktionäre gegenüber der Gesellschaft beste­ht. Dabei hielt es fest, dass eine Anfech­tung der die Vor­rechte von Par­tizipan­ten mis­sach­t­en­den Beschlüsse der Gen­er­alver­samm­lung notwendig sei, damit eine berechtigte Per­son die ihr statu­tarisch zuste­hen­den Rechte gel­tend machen könne.

Hin­ter­grund war fol­gen­der Sachver­halt: Die Statuten ein­er Aktienge­sellschaft (nach­fol­gend Beklagte) hiel­ten unter anderem fest, dass vom Jahres­gewinn nach Abzug der all­ge­meinen Reserve “die Par­tizipan­ten eine Vorzugs­div­i­dende bis zu 5% des Nomi­al­w­erts der Par­tizipa­tion­ss­cheine” erhal­ten wür­den. Anlässlich der ordentlichen Gen­er­alver­samm­lung für das Geschäft­s­jahr 2017 stellte der Kläger den Antrag, zusät­zlich zur vorge­se­henen Auss­chüt­tung ein­er Div­i­dende sei pro Par­tizipa­tion­ss­chein eine Vorzugs­div­i­dende auszubezahlen. Der Ver­wal­tungsrat liess diesen Antrag nicht zur Beratung und Abstim­mung zu. Die Gen­er­alver­samm­lung fasste den Beschluss über die Ver­wen­dung des Geschäft­sergeb­niss­es für das Jahr 2017 entsprechend dem Antrag des Ver­wal­tungsrates, woraufhin der Kläger den Beschluss mit Klage vor dem Han­dels­gericht Bern anfocht. Dabei forderte er die Aufhe­bung dieses Beschlusses und ver­langte von der Beklagten die Bezahlung der Vorzugs­div­i­dende pro Par­tizipa­tion­ss­chein für die Geschäft­s­jahre 2012–2014 sowie 2016 und 2017. Even­tu­aliter sei die Aktienge­sellschaft zu verpflicht­en, Gen­er­alver­samm­lungs­beschlüsse zu fassen, wonach für die Geschäft­s­jahre 2012–2014 sowie 2016 eine jew­eils betraglich pro Par­tizipa­tion­ss­chein fest­ge­set­zte Vorzugs­div­i­dende auszuschüt­ten sei. Das Han­dels­gericht hob den Beschluss der Beklagten über die Ver­wen­dung des Geschäft­sergeb­niss­es 2017 ab und wies die Klage soweit weit­erge­hend ab.

Das Bun­des­gericht gibt zunächst die in der Lehre vertrete­nen Auf­fas­sun­gen zur Frage wieder, wann und unter welchen Voraus­set­zun­gen die priv­i­legierten Aktionäre über ein Forderungsrecht gegenüber der Gesellschaft ver­fü­gen. Ein Teil der Lehre, auf den sich der Kläger stützte, ver­tritt gestützt auf zwei ältere Entschei­de des Bun­des­gericht (BGE 29 II 452, E. 5, und BGE 53 II 250, E. 5) die Auf­fas­sung, das Div­i­den­den­vor­recht konkretisiere sich im Zeit­punkt des Gewin­nver­wen­dungs­beschlusses der Gen­er­alver­samm­lung in ein­er gegen die AG durch­set­zbare Forderung. Es bedürfe kein­er beson­deren Beschlussfas­sung, sofern die Statuten die Verteilung des Bilanzgewinns und den Umfang des Vor­rechts regeln. In diesen Fällen entste­he der Anspruch auf Div­i­dende bere­its im Zeit­punkt der Genehmi­gung der Jahres­rech­nung und des Beschlusses über die Gewin­nverteilung. Der Anspruch werde fäl­lig, sobald ein (statuten­widriger) Gewin­nver­wen­dungs­beschluss der Gen­er­alver­samm­lung ergan­gen sei (E. 3.1.1). Gemäss einem anderen Teil der Lehre, auf den sich das Han­dels­gericht berief, sei die frühere Prax­is des Bun­des­gerichts mit dem heute gel­tenden Recht unvere­in­bar. Eine Schuld der (nicht in Liq­ui­da­tion befind­lichen) Gesellschaft gegenüber den Aktionären entste­he recht­mäs­sig nur aus einem Div­i­den­denbeschluss, der die fünf geset­zlichen Voraus­set­zun­gen erfülle — darunter eine Zus­tim­mung der Mehrheit der Gen­er­alver­samm­lung -, oder aber aus einem Kap­i­tal­her­ab­set­zungs­beschluss. Die Fest­set­zung ein­er Div­i­dende und damit die Schaf­fung ein­er Schuld der Gesellschaft im entsprechen­den Betrag gegenüber den Aktionären sei eine unüber­trag­bare Zuständigkeit der Gen­er­alver­samm­lung. Eine Statutenbes­tim­mung, die etwas anderes vorse­he, oder ein Gewin­nverteilungs­beschluss des Ver­wal­tungsrates, der sich nicht auf einen Gen­er­alver­samm­lungs­beschluss stützt, sei nichtig (E. 3.1.2).

Sodann hält das Bun­des­gericht fest, dass unab­hängig von der Frage, ob die vor­ge­nan­nten Entschei­de (BGE 29 II 452, E. 5, und BGE 53 II 250, E. 5) mit Blick auf die zwis­chen­zeitlich erfol­gten Geset­zes­re­vi­sio­nen noch ein­schlägig seien, aus diesen nicht abgeleit­et wer­den könne, der Par­tizipant könne auch ohne Anfech­tung der statuten­widri­gen Beschlüsse seine statuten­mäs­si­gen Ansprüche auf Div­i­dende durch­set­zen (E. 3.2). In bei­den Entschei­den hätte sich das Bun­des­gericht aus­drück­lich auf die erfol­gte Anfech­tung der das Vor­recht ver­let­zen­den Gen­er­alver­samm­lungs­beschlüsse bezo­gen. Im Rah­men der Anfech­tung hätte es geprüft, in welchem Mass die Voraus­set­zun­gen, unter denen die Gen­er­alver­samm­lung die Vor­rechte im konkreten Fall ein­schränken durfte, gegeben waren (E. 3.2.1). Zur vor­liegend umstrit­te­nen Frage, ob eine Anfech­tung der das Priv­i­leg mis­sach­t­en­den Gesellschafts­beschlüsse erfol­gen muss, um sich die aus dem Priv­i­leg fliessenden Rechte zu sich­ern, habe sich das Bun­des­gericht im Zusam­men­hang mit der Auss­chüt­tung von Tantiemen befasst. Aus dieser Recht­sprechung könne allerd­ings für die vor­liegend wesentliche Frage nichts abgeleit­et wer­den. Ein Ver­wal­tungsrat ste­he gegenüber der Gesellschaft ein Recht­sanspruch auf die Tantieme zu, den er mit Leis­tungsklage gegenüber der Gesellschaft gel­tend machen könne, wenn die Statuten der Gen­er­alver­samm­lung die Aus­rich­tung von Tantiemen in einem bes­timmten Mass zwin­gend vorschreiben und die statu­tarischen Voraus­set­zun­gen erfüllt sind. Es sei indessen nicht notwendig, dass der Ver­wal­tungsrat den Gen­er­alver­samm­lungs­beschluss, der diesen Anspruch mis­sachtet, anfechtet. Grund dafür ist, dass der Recht­sanspruch Bestandteil des zwis­chen der Gesellschaft und dem einzel­nen Ver­wal­tungsrat beste­hen­den synal­lag­ma­tis­chen Rechtsver­hält­niss­es sei. Die Ver­tragsver­hält­nisse der einzel­nen Ver­wal­tungsratsmit­glieder kön­nten völ­lig unab­hängig voneinan­der beste­hen. Vor­liegend liege, so das Bun­des­gericht, der Fall anders. Es gehe nicht um eine ver­tragliche Forderung, son­dern um einen Anspruch auf Div­i­den­de­nauss­chüt­tung, mithin um ein sämtlichen Par­tizipan­ten zuste­hen­des Priv­i­leg, auf das sie alle auf­grund ihrer Stel­lung als Par­tizipan­ten Anspruch erheben kön­nten (E. 3.2.2).

Entsprechend habe, so das Bun­des­gericht weit­er, das Han­dels­gericht zu Recht eine Anfech­tung der die Priv­i­legien mis­sach­t­en­den Beschlüsse der Gen­er­alver­samm­lung ver­langt. Da die Gutheis­sung der Anfech­tungsklage i.S.v. Art. 706 Abs. 1 OR zu einem auflösenden Gestal­tung­surteil mit rück­wirk­ender Aufhe­bung des ange­focht­e­nen Gen­er­alver­samm­lungs­beschlusses führe (E. 3.3.1), könne nur mit ein­er Pflicht zur Anfech­tung gewährleis­tet wer­den, dass die pflichtwidrige Mis­sach­tung von Priv­i­legien bei allen Betrof­fe­nen gle­icher­massen beseit­igt werde. Die Revi­sion des Aktien­rechts habe denn auch beab­sichtigt, als mögliche Rechts­fol­gen ein­er Aktionärsrechtsver­let­zung nur noch die Nichtigkeit oder die Anfecht­barkeit zuzu­lassen. Eine rel­a­tive Unwirk­samkeit sei mit dem Grund­satz der Rechts­gle­ich­heit und dem Rechtssicher­heitsin­ter­esse nicht vere­in­bar. Auch wenn Vorzugsak­tionäre ein indi­vidu­elles Klagerecht hät­ten, wäre es nicht gewährleis­tet, dass es zu ein­heitlichen Entschei­den kommt. Würde man Vorzugsak­tionären ohne Anfech­tung der Beschlüsse einen per­sön­lichen Anspruch wegen man­gel­hafter Erfül­lung zuerken­nen, bestünde zudem die Gefahr, dass auf­grund der Beschlüsse mehr verteilt werde, als (bei Berück­sich­ti­gung der Priv­i­legien) noch zur Verteilung zur Ver­fü­gung stand. Bei Tantiemen stelle sich zwar ein analoges Prob­lem, allerd­ings auf­grund des per­sön­lichen Ver­trags der Ver­wal­tungsräte mit der Gesellschaft unter anderen Vorze­ichen (E. 3.3.2). An dieser Sichtweise sei auch in Bezug auf Par­tizipan­ten festzuhal­ten, die mit den Aktionären grund­sät­zlich eine Schick­sals­ge­mein­schaft bilden wür­den. Der Par­tizipa­tion­ss­chein ver­briefe eine Beteili­gung und nicht ein Gläu­biger­recht und dem Par­tizipan­ten wür­den die gle­ichen Anfech­tungsrechte wie dem Aktionär zuste­hen. Sodann müsse den Par­tizipan­ten die Ein­beru­fung der Gen­er­alver­samm­lung zusam­men mit den Ver­hand­lungs­ge­gen­stän­den und den Anträ­gen bekan­nt gegeben wer­den und jed­er Beschluss der Gen­er­alver­samm­lung sei unverzüglich am Gesellschaftssitz und bei den einge­tra­ge­nen Zweignieder­las­sun­gen zur Ein­sicht der Par­tizipan­ten aufzule­gen (E. 3.3.3). Schliesslich erwog das Bun­des­gericht, dass Beschlüsse, welche das Div­i­den­den­vor­recht ver­let­zen, bloss anfecht­bar, nicht aber nichtig seien. Die Mis­sach­tung der Auss­chüt­tung­spriv­i­legien (beispiel­sweise indem im Gesetz und in den Statuten nicht vorge­se­hene Reser­ven gebildet wer­den) kön­nten sich langfristig auch zu Gun­sten der priv­i­legierten Aktionäre oder Par­tizipan­ten auswirken. Dies spriche gegen die Annahme ein­er von Amtes wegen zu berück­sichti­gen­den Nichtigkeit. Auch unter dem Gesicht­spunkt der Rechtssicher­heit erscheine es wesentlich, dass über die vorzunehmenden Auss­chüt­tun­gen nicht län­gere Zeit Unklarheit herrsche (E. 3.3.4).

Entsprechend den vorste­hen­den Erwä­gun­gen hat­te sich das Bun­des­gericht in der Folge nur noch mit dem Geschäft­s­jahr 2017 zu befassen, da der Kläger nur diesen Gen­er­alver­samm­lungs­beschluss ange­focht­en hat­te. In diesem Zusam­men­hang hielt das Bun­des­gericht fest, dass die früher ergan­genen Entschei­de (BGE 29 II 452 und BGE 53 II 250) angesichts der sei­ther einge­trete­nen Geset­zesän­derun­gen keine Gel­tung mehr beanspruchen kön­nten (E. 3.4). Mit der geset­zlichen Regelung der Par­tizipa­tion­ss­cheine sei die indi­vid­u­al­rechtliche Aus­gestal­tung der wohler­wor­be­nen Aktionärsrechte aufgegeben wor­den. Sodann sei mit Blick auf die Rechts­gle­ich­heit und das Rechtssicher­heitsin­ter­esse auch auf das Kon­strukt der rel­a­tiv­en Unwirk­samkeit verzichtet wor­den. Bei­des spreche gegen eine unverän­derte Fort­führung der Recht­sprechung (E. 3.4.3). Sodann verneinte das Bun­des­gericht, dass eine Vertrös­tung des Klägers, bis eine kor­rek­te Beschlussfas­sung der Gen­er­alver­samm­lung über die Div­i­dende erfol­gt sei, eine rechtsmiss­bräuch­liche Schikane darstelle. Der Geset­zge­ber habe darauf verzichtet, gegen allfäl­lige treuwidrige Ver­hal­tensweisen spezielle Sank­tio­nen vorzuse­hen. Vielmehr könne der Richter gegebe­nen­falls der­art treuwidrigem Ver­hal­ten den Rechtss­chutz ver­sagen. Nach Treu und Glauben habe die Gen­er­alver­samm­lung nach erfol­gre­ich­er Anfech­tung ihres Beschlusses zügig einen statutenkon­for­men Beschluss zu fassen. Sowohl wenn sich die Gen­er­alver­samm­lung beim neuen Beschluss nicht an die Mass­gaben halte, auf­grund der­er der ursprüngliche Beschluss aufge­hoben wurde, als auch wenn sie einen statutenkon­for­men Beschluss unge­bührlich verzögere, ver­halte sie sich treuwidrig. Nur und erst wenn es die Gen­er­alver­samm­lung unter­lasse, innert angemessen­er Frist einen statutenkon­for­men Beschluss zu fassen, sei den Par­tizipan­ten, die selb­st keinen entschei­den­den Ein­fluss auf die Gen­er­alver­samm­lung nehmen kön­nten, bei erfol­gre­ich­er Anfech­tung eines erneut unzuläs­si­gen Beschlusses, falls ein solch­er ergan­gen sein sollte, der ihnen zuste­hende Betrag zufolge treuwidri­gen Ver­hal­tens der Aktionäre direkt zuzus­prechen. Ein solch­es rechtsmiss­bräch­lich­es Ver­hal­ten liege vor­liegend zurzeit nicht vor, zumal die Höhe des den Par­tizipan­ten zuste­hen­den Priv­i­legs umstrit­ten sei und der Kläger selb­st vor Bun­des­gericht einen höheren Betrag zu erstre­it­en suche (E. 3.4.5).

Schliesslich äusserte sich das Bun­des­gericht aus prozessökonomis­chen Grün­den zu den quan­ti­ta­tiv­en Erwä­gun­gen des Han­dels­gerichts, obwohl der Kläger zurzeit nur die Aufhe­bung des Gen­er­alver­samm­lungs­beschlusses ver­lan­gen und noch keine Forderun­gen gegen die Gesellschaft stellen könne (E. 4). Dabei bestätigte es die Erwä­gun­gen des Han­dels­gerichts, wonach zwar mit jed­er Her­ab­set­zung des Nen­nwerts der Par­tizipa­tion­ss­cheine (und der damit zusam­men­hän­gen­den Beschränkung der Vor­rechte) eine Son­derver­samm­lung hätte durchge­führt wer­den müssen, die Her­ab­set­zungs­beschlüsse indessen man­gels Anfech­tung durch die Par­tizipan­ten wirk­sam gewor­den seien (E. 4.1). Der Kläger habe, so das Bun­des­gericht, nicht rechts­genüglich aufgezeigt, dass die Par­tizipan­ten nicht hät­ten erken­nen kön­nen, dass mit der Nen­nwertre­duk­tion eine entsprechende Reduk­tion ihres Vor­rechts ein­herge­hen sollte. Es erscheine daher gerecht­fer­tigt, auch in Bezug auf die Her­ab­set­zung des Nen­nwerts eine Anfech­tung des Beschlusses der Gen­er­alver­samm­lung zu ver­lan­gen. Denn die Par­tizipan­ten kön­nten nicht den Beschluss der Gen­er­alver­samm­lung in Bezug auf die Her­ab­set­zung des Nen­nwerts akzep­tieren, nicht aber die damit ein­herge­hende Anpas­sung ihrer Priv­i­legien (E. 4.3).