Ehemalige Organe von Unternehmen, gegen welche kartellrechtlich ermittelt wird, können gemäss neuestem Entscheid des Bundesgerichts uneingeschränkt als Zeugen einvernommen werden. Auf das sich aus dem Grundsatz nemo tenetur ergebende Schweigerecht des Unternehmens können sich lediglich aktuelle formelle und faktische Organe berufen.
Hintergrund waren Verfügungen der Weko, gestützt auf welche ehemalige Organe von Unternehmen, gegen welche die Weko wegen Verdachts auf unzulässigen Wettbewerbsabreden ermittelt, als Zeugen einzuvernehmen seien. Das Bundesverwaltungsgericht bestätige zwar, dass ehemalige Organe als Zeugen einvernommen werden könnten, hielt allerdings in der Urteilsbegründung fest, dass die Zeugenbefragung mit Blick auf den nemo tenetur-Grundsatz nur zulässig sei, solange sie sich auf Angaben rein tatsächlicher Art beschränke, welche sich für das betroffene Unternehmen im Hinblick auf eine allfällige Sanktionierung nicht direkt belastend auswirken könnten. Das Bundesgericht widersprach dieser Ansicht.
Zunächst bestätigte das Bundesgericht, dass gegen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts Beschwerden erhoben werden könnten. Zwar seien die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts, gestützt auf welche den ehemaligen Organen ein Zeugnisverweigerungsrecht für allenfalls sanktionsrelevante Vorfälle zustehen würden, nicht ins Dispositiv des angefochtenen Entscheids eingeflossen. Sie würden die Weko jeodch insofern binden, als damit gerechnet werden müsse, dass das Bundesverwaltungsgericht eine Befragung der ehemaligen Organe ohne Gewährung des besagten Aussageverweigerungsrechts als unverwertbar qualifizieren und eine darauf gestützte Sanktionierung der Unternehmen aufheben würde. Entsprechend sei der angefochtene Entscheid materiell nicht als vollumfängliche Abweisung, sondern als teilweise Gutheissung zu qualifizieren. Eine Beschwerde gegen diesen Entscheid sei daher zulässig, zumal die Weko ansonsten eine verfahrensrechtliche Praxis etablieren müsse, die sie für gesetzeswidrig halte (E. 1.2.3). An der Zulässigkeit der Beschwerde ändere sodann nichts, dass das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und nicht die Weko als mit der Untersuchung befasste Behörde die Beschwerde führe (E. 1.2.4 und E. 1.3).
Anschliessend bestätigte das Bundesgericht die Erwägungen der Vorinstanz, wonach ehemalige Organe eines untersuchungsbetroffenen Unternehmens in einem Kartellsanktionsverfahren
grundsätzlich als Zeugen zu befragen seien. Die in Art. 42 Abs. 1 KG enthaltene Unterscheidung zwischen den “von der Untersuchung Betroffenen” und “Dritten” sei praktisch von grosser Bedeutung, da Dritte als Zeugen grundsätzlich zur wahrheitsgemässen Aussage verpflichtet sind, während die “von der Untersuchung Betroffenen” im Rahmen des “einfachen Parteiverhörs” aufgrund von Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Aussage verweigern könnten (E. 4.3). Mit Blick auf die französische und italienische Sprachfassung umschliesse der Begriff “von der Untersuchung Betroffene” einzig die Verfahrensparteien (E. 4.4). Ob eine Person Verfahrenspartei sei, richte sich mangels anderslautender Bestimmung im Kartellgesetz nach Art. 6 VwVG (E. 4.5). Organe von Unternehmen, welche von der Untersuchung betroffen seien, würden, so das Bundesgericht weiter, im Kartellsanktionsverfahren nicht aus eigenem Recht über Parteistellung verfügen. Allerdings würden juristische Personen im Kartellverwaltungsverfahren durch ihre aktuellen formellen und faktischen Organe handeln, weshshalb diese grundsätzlich als Partei und nicht als Dritte zu behandeln seien. Anderen Angehören juristischer Personen fehle es hingegen an der Parteistellung, weshalb diese als Zeugen zu befragen seien (E. 4.6). Auch ehemalige Organe von Unternehmen seien als Zeugen und nicht als Verfahrensparteien zu befragen, da nur Aussagen aktueller Organe bzw. aktuell vertretungsberechtigter natürlicher Personen der juristischen Partei zugerechnet werden könnten. Auch eine Einvernahme als Auskunftsperson komme nicht in Frage, da dies in Art. 42 Abs. 1 KG nicht vorgesehen sei. Habe eine Person ihre Organstellung in einem Unternehmen verloren, verfüge sie betreffend die allfällige Sanktionierung des Unternehmens nicht mehr über ein unmittelbares Interesse am Verfahrensausgang. Dies gelte auch dann, wenn sie Aussagen zu Begebenheiten machen müsse, die sich im Zeitraum ihrer Organstellung zugetragen hätten und aus denen ihr im Verhältnis zu ihrer ehemaligen Arbeitgeberin gegebenenfalls zivilrechtliche Nachteile entstehen könnten (E. 4.7).
Entgegen dem Bundesverwaltungsgericht stehe, so das Bundesgericht weiter, dem ehemaligen Organ indessen kein vom Unternehmen abgeleitetes Aussageverweigerugsrecht zu. Die Vorinstanz hatte ein solches mit der Begründung bejaht, dass das aus dem nemo-tenetur-Grundsatz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 32 Abs. 2 BV) fliessende Aussageverweigerungsrecht des Unternehmens ausgehölt werde, wenn die Weko ehemalige Organe uneingeschränkt zu Vorgängen befragen dürfte, die sich während der Zeit der Organstellung zugetragen hätten. Demgegenüber argumentiert das Bundesgericht, dass der Schutz juristischer Personen durch den nemo-tenetur-Grundsatz im Kartellsanktionsverfahren eine teilweise andere Stossrichtung verfolge als bei natürlichen Personen. Von einem Strafverfahren betroffene natürliche Personen würden durch eine (strafbewehrte) Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage in das Dilemma geraten, sich entweder selbst einer Unrechtstat zu bezichtigen oder aber Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden. Dies sei bei juristischen Personen nicht der Fall. Solange den für das Unternehmen handelnden Organen nicht auch persönlich eine (strafrechtliche oder strafrechtsähnliche) Sanktionierung drohe, könnten sie nicht in die beschriebene Zwangslage geraten. Da natürliche Personen in Kartellsanktionsverfahren grundsätzlich nicht sanktioniert werden könnten, bezwecke der nemo-tenetur-Grundsatz nicht den Schutz der Organe, sondern einzig die Gewährleistung eines effektiven Verteidigungsrechts der von der Untersuchung betroffenen Unternehmen (E. 5.2.2). Aufgrund des Schutzzwecks des nemo-tenetur-Grundsatzes für Unternehmen sei kein Grund dafür ersichtlich, ehemaligen Organen ein Aussageverweigerungsrecht zuzugestehen. Zwar treffe zu, dass ehemalige Organe unter Umständen ein besonderes Näheverhältnis zum untersuchungsbetroffenen Unternehmen aufweisen und möglicherweise gerade aufgrund dieses Näheverhältnisses belastende Aussagen machen könnten. Der nemo-tenetur-Grundsatz bezwecke jedoch nicht den Schutz vor belastenden Aussagen, ansonsten jeder Person ein Aussageverweigerungsrecht zugestanden werden müsste, die aufgrund eines wie auch immer gearteten Näheverhältnisses potenziell belastende Aussagen zum inkriminierten Verhalten machen könnte. Dies führe klarerweise zu weit und sei vom EGMR so auch nie postuliert worden. Im Vordergrund stehe vielmehr die Sicherstellung der Möglichkeit einer wirksamen Verteidigung für das untersuchungsbetroffene Unternehmen. Es sei nicht ersichtlich, dass diese Möglichkeit zu einer wirksamen Verteidigung dadurch beschnitten würde, dass ehemalige Organe aufgrund ihrer Pflicht zu wahrheitsgemässer Aussage belastende Aussagen treffen könnten. Die Aussagen der ehemaligen Organe könnten der Untersuchungsbetroffenen nicht zugerechnet werden. Insofern seien die im Kartellsanktionsverfahren handelnden Organe bzw. ihre Rechtsvertreter frei darin, deren Aussagen in Frage zu stellen und sie gegebenenfalls zu widerlegen, ohne hierdurch widersprüchlich zu handeln (E. 5.2.3). Der Gesetzgeber habe denn auch kein spezifisches Zeugnisverweigerungsrecht zum Schutz des Näheverhältnisses zwischen ehemaligen Organen und der untersuchungsbetroffenen Gesellschaft geschaffen (E. 5.3).
In zwei paralellen Verfahren (BGer 2C_87/2020 und 2C_88/2020) hob das Bundesgericht sodann die Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts ebenfalls auf. Der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach das vom Unternehmen angerufene Auskunfts- und Editionsverweigerungsrecht nicht als subsidiär zur nachgelagerten Möglichkeit der Verwertungseinrede aufgefasst werden dürfe, ansonsten das Verbot des Selbstbelastungszwangs auf ein blosses Verwertungsverbot reduziert würde (jeweils E. 3.2.2), sei nicht zu folgen. Diese Begründung, so das Bundesgericht, möge in Erwägung zu ziehen sein, wenn sich die natürliche Person, die gegen die Zeugenvorladung vorgehe, aus eigenem Recht auf die Einhaltung des nemo-tenetur-Grundsatzes berufe. Personen, die selbst nicht vom Schutzbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes erfasst seien, würden durch die Zeugeneinvernahme jedoch (jedenfalls mit Blick auf die Einhaltung dieser strafprozessualen Garantie) keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil erleiden (jeweils E. 3.2.3). Die Beschwerde des Unternehmens wäre daher nur dann zulässig gewesen, wenn es hinreichend substanziiert hätte, dass es selbst durch die Zeugenbefragung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (insbesondere in Form einer Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes) erleiden könnte. Davon sei, unter Verweis auf das vorstehend zusammengefasste Urteil 2C_383/2020, nicht auszugehen. Das Unternehmen könne damit vorliegend aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK nichts für sich ableiten. Wie es sich insoweit mit der späteren Arbeitgeberin der natürlichen Person verhalte, gegen welche sich die Untersuchung der Weko ebenfalls richte, sei hier nicht zu klären, da diese Gesellschaft die strittige Zeugenvorladung nicht angefochten hätte. Ob es der zugunsten dieses Unternehmens anwendbare nemo-tenetur-Grundsatz erlaube, dass eine natürliche Person in einem gegen mehrere Unternehmen geführten Kartellsanktionsverfahren einmal als Zeugin (mit Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage) und einmal als Parteivertreterin (mit Aussageverweigerungsrecht) befragt werde, müsse daher offen gelassen werden (BGer 2C_87/2020, E. 3.3). Auf die Beschwerde der natürlichen Person hätte, so das Bundesgericht, gar nicht eingetreten werden dürfen, da natürliche Personen grundsätzlich nicht nach Art. 49a KG sanktioniert werden könnten. Da die Untersuchung einzig gegen Finanzdienstleister, die als juristische Personen organisiert seien, gerichtet sei, hätte sich die natürliche Person vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht aus eigenem Recht auf den nemo-tenetur-Grundsatz berufen können (BGer 2C_88/2020, E. 3.3.1–3.3.3).