2C_383/2020: Einvernahme ehemaliger Organe in Kartellsanktionsverfahren als Zeugen (amtl. Publ.)

Ehe­ma­lige Organe von Unternehmen, gegen welche kartell­rechtlich ermit­telt wird, kön­nen gemäss neuestem Entscheid des Bun­des­gerichts uneingeschränkt als Zeu­gen ein­ver­nom­men wer­den. Auf das sich aus dem Grund­satz nemo tene­tur ergebende Schweigerecht des Unternehmens kön­nen sich lediglich aktuelle formelle und fak­tis­che Organe berufen.

Hin­ter­grund waren Ver­fü­gun­gen der Weko, gestützt auf welche ehe­ma­lige Organe von Unternehmen, gegen welche die Weko wegen Ver­dachts auf unzuläs­si­gen Wet­tbe­werb­sabre­den ermit­telt, als Zeu­gen einzu­vernehmen seien. Das Bun­desver­wal­tungs­gericht bestätige zwar, dass ehe­ma­lige Organe als Zeu­gen ein­ver­nom­men wer­den kön­nten, hielt allerd­ings in der Urteils­be­grün­dung fest, dass die Zeu­gen­be­fra­gung mit Blick auf den nemo tene­tur-Grund­satz nur zuläs­sig sei, solange sie sich auf Angaben rein tat­säch­lich­er Art beschränke, welche sich für das betrof­fene Unternehmen im Hin­blick auf eine allfäl­lige Sank­tion­ierung nicht direkt belas­tend auswirken kön­nten. Das Bun­des­gericht wider­sprach dieser Ansicht.

Zunächst bestätigte das Bun­des­gericht, dass gegen die Urteile des Bun­desver­wal­tungs­gerichts Beschw­er­den erhoben wer­den kön­nten. Zwar seien die Erwä­gun­gen des Bun­desver­wal­tungs­gerichts, gestützt auf welche den ehe­ma­li­gen Orga­nen ein Zeug­nisver­weigerungsrecht für allen­falls sank­tion­srel­e­vante Vor­fälle zuste­hen wür­den, nicht ins Dis­pos­i­tiv des ange­focht­e­nen Entschei­ds einge­flossen. Sie wür­den die Weko jeod­ch insofern binden, als damit gerech­net wer­den müsse, dass das Bun­desver­wal­tungs­gericht eine Befra­gung der ehe­ma­li­gen Organe ohne Gewährung des besagten Aus­sagev­er­weigerungsrechts als unver­w­ert­bar qual­i­fizieren und eine darauf gestützte Sank­tion­ierung der Unternehmen aufheben würde. Entsprechend sei der ange­focht­ene Entscheid materiell nicht als vol­lum­fängliche Abweisung, son­dern als teil­weise Gutheis­sung zu qual­i­fizieren. Eine Beschw­erde gegen diesen Entscheid sei daher zuläs­sig, zumal die Weko anson­sten eine ver­fahren­srechtliche Prax­is etablieren müsse, die sie für geset­zeswidrig halte (E. 1.2.3). An der Zuläs­sigkeit der Beschw­erde ändere sodann nichts, dass das Eid­genös­sis­che Departe­ment für Wirtschaft, Bil­dung und Forschung (WBF) und nicht die Weko als mit der Unter­suchung befasste Behörde die Beschw­erde führe (E. 1.2.4 und E. 1.3).

Anschliessend bestätigte das Bun­des­gericht die Erwä­gun­gen der Vorin­stanz, wonach ehe­ma­lige Organe eines unter­suchungs­be­trof­fe­nen Unternehmens in einem Kartellsanktionsverfahren
grund­sät­zlich als Zeu­gen zu befra­gen seien. Die in Art. 42 Abs. 1 KG enthal­tene Unter­schei­dung zwis­chen den “von der Unter­suchung Betrof­fe­nen” und “Drit­ten” sei prak­tisch von gross­er Bedeu­tung, da Dritte als Zeu­gen grund­sät­zlich zur wahrheits­gemässen Aus­sage verpflichtet sind, während die “von der Unter­suchung Betrof­fe­nen” im Rah­men des “ein­fachen Parteiver­hörs” auf­grund von Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Aus­sage ver­weigern kön­nten (E. 4.3). Mit Blick auf die franzö­sis­che und ital­ienis­che Sprach­fas­sung umschliesse der Begriff “von der Unter­suchung Betrof­fene” einzig die Ver­fahrensparteien (E. 4.4). Ob eine Per­son Ver­fahrenspartei sei, richte sich man­gels ander­slau­t­en­der Bes­tim­mung im Kartellge­setz nach Art. 6 VwVG (E. 4.5). Organe von Unternehmen, welche von der Unter­suchung betrof­fen seien, wür­den, so das Bun­des­gericht weit­er, im Kartell­sank­tionsver­fahren nicht aus eigen­em Recht über Parteis­tel­lung ver­fü­gen. Allerd­ings wür­den juris­tis­che Per­so­n­en im Kartel­lver­wal­tungsver­fahren durch ihre aktuellen formellen und fak­tis­chen Organe han­deln, weshshalb diese grund­sät­zlich als Partei und nicht als Dritte zu behan­deln seien. Anderen Ange­hören juris­tis­ch­er Per­so­n­en fehle es hinge­gen an der Parteis­tel­lung, weshalb diese als Zeu­gen zu befra­gen seien (E. 4.6). Auch ehe­ma­lige Organe von Unternehmen seien als Zeu­gen und nicht als Ver­fahrensparteien zu befra­gen, da nur Aus­sagen aktueller Organe bzw. aktuell vertre­tungs­berechtigter natür­lich­er Per­so­n­en der juris­tis­chen Partei zugerech­net wer­den kön­nten. Auch eine Ein­ver­nahme als Auskun­ftsper­son komme nicht in Frage, da dies in Art. 42 Abs. 1 KG nicht vorge­se­hen sei. Habe eine Per­son ihre Organstel­lung in einem Unternehmen ver­loren, ver­füge sie betr­e­f­fend die allfäl­lige Sank­tion­ierung des Unternehmens nicht mehr über ein unmit­tel­bares Inter­esse am Ver­fahren­saus­gang. Dies gelte auch dann, wenn sie Aus­sagen zu Begeben­heit­en machen müsse, die sich im Zeitraum ihrer Organstel­lung zuge­tra­gen hät­ten und aus denen ihr im Ver­hält­nis zu ihrer ehe­ma­li­gen Arbeit­ge­berin gegebe­nen­falls zivil­rechtliche Nachteile entste­hen kön­nten (E. 4.7).

Ent­ge­gen dem Bun­desver­wal­tungs­gericht ste­he, so das Bun­des­gericht weit­er, dem ehe­ma­li­gen Organ indessen kein vom Unternehmen abgeleit­etes Aus­sagev­er­weigerugsrecht zu. Die Vorin­stanz hat­te ein solch­es mit der Begrün­dung bejaht, dass das aus dem nemo-tene­tur-Grund­satz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 32 Abs. 2 BV) fliessende Aus­sagev­er­weigerungsrecht des Unternehmens aus­ge­hölt werde, wenn die Weko ehe­ma­lige Organe uneingeschränkt zu Vorgän­gen befra­gen dürfte, die sich während der Zeit der Organstel­lung zuge­tra­gen hät­ten. Demge­genüber argu­men­tiert das Bun­des­gericht, dass der Schutz juris­tis­ch­er Per­so­n­en durch den nemo-tene­tur-Grund­satz im Kartell­sank­tionsver­fahren eine teil­weise andere Stoss­rich­tung ver­folge als bei natür­lichen Per­so­n­en. Von einem Strafver­fahren betrof­fene natür­liche Per­so­n­en wür­den durch eine (straf­be­wehrte) Pflicht zur wahrheits­gemässen Aus­sage in das Dilem­ma ger­at­en, sich entwed­er selb­st ein­er Unrecht­stat zu bezichti­gen oder aber Zwangsmit­teln aus­ge­set­zt zu wer­den. Dies sei bei juris­tis­chen Per­so­n­en nicht der Fall. Solange den für das Unternehmen han­del­nden Orga­nen nicht auch per­sön­lich eine (strafrechtliche oder strafrecht­sähn­liche) Sank­tion­ierung dro­he, kön­nten sie nicht in die beschriebene Zwangslage ger­at­en. Da natür­liche Per­so­n­en in Kartell­sank­tionsver­fahren grund­sät­zlich nicht sank­tion­iert wer­den kön­nten, bezwecke der nemo-tene­tur-Grund­satz nicht den Schutz der Organe, son­dern einzig die Gewährleis­tung eines effek­tiv­en Vertei­di­gungsrechts der von der Unter­suchung betrof­fe­nen Unternehmen (E. 5.2.2). Auf­grund des Schutzz­wecks des nemo-tene­tur-Grund­satzes für Unternehmen sei kein Grund dafür ersichtlich, ehe­ma­li­gen Orga­nen ein Aus­sagev­er­weigerungsrecht zuzugeste­hen. Zwar tre­ffe zu, dass ehe­ma­lige Organe unter Umstän­den ein beson­deres Nähev­er­hält­nis zum unter­suchungs­be­trof­fe­nen Unternehmen aufweisen und möglicher­weise ger­ade auf­grund dieses Nähev­er­hält­niss­es belas­tende Aus­sagen machen kön­nten. Der nemo-tene­tur-Grund­satz bezwecke jedoch nicht den Schutz vor belas­ten­den Aus­sagen, anson­sten jed­er Per­son ein Aus­sagev­er­weigerungsrecht zuge­s­tanden wer­den müsste, die auf­grund eines wie auch immer geart­eten Nähev­er­hält­niss­es poten­ziell belas­tende Aus­sagen zum inkri­m­inierten Ver­hal­ten machen kön­nte. Dies führe klar­erweise zu weit und sei vom EGMR so auch nie pos­tuliert wor­den. Im Vorder­grund ste­he vielmehr die Sich­er­stel­lung der Möglichkeit ein­er wirk­samen Vertei­di­gung für das unter­suchungs­be­trof­fene Unternehmen. Es sei nicht ersichtlich, dass diese Möglichkeit zu ein­er wirk­samen Vertei­di­gung dadurch beschnit­ten würde, dass ehe­ma­lige Organe auf­grund ihrer Pflicht zu wahrheits­gemäss­er Aus­sage belas­tende Aus­sagen tre­f­fen kön­nten. Die Aus­sagen der ehe­ma­li­gen Organe kön­nten der Unter­suchungs­be­trof­fe­nen nicht zugerech­net wer­den. Insofern seien die im Kartell­sank­tionsver­fahren han­del­nden Organe bzw. ihre Rechtsvertreter frei darin, deren Aus­sagen in Frage zu stellen und sie gegebe­nen­falls zu wider­legen, ohne hier­durch wider­sprüch­lich zu han­deln (E. 5.2.3).  Der Geset­zge­ber habe denn auch kein spez­i­fis­ches Zeug­nisver­weigerungsrecht zum Schutz des Nähev­er­hält­niss­es zwis­chen ehe­ma­li­gen Orga­nen und der unter­suchungs­be­trof­fe­nen Gesellschaft geschaf­fen (E. 5.3).

In zwei para­lellen Ver­fahren (BGer 2C_87/2020 und 2C_88/2020) hob das Bun­des­gericht sodann die Entschei­de des Bun­desver­wal­tungs­gerichts eben­falls auf. Der Auf­fas­sung des Bun­desver­wal­tungs­gerichts, wonach das vom Unternehmen angerufene Auskun­fts- und Edi­tionsver­weigerungsrecht nicht als sub­sidiär zur nachge­lagerten Möglichkeit der Ver­w­er­tung­seinrede aufge­fasst wer­den dürfe, anson­sten das Ver­bot des Selb­st­be­las­tungszwangs auf ein bloss­es Ver­w­er­tungsver­bot reduziert würde (jew­eils E. 3.2.2), sei nicht zu fol­gen. Diese Begrün­dung, so das Bun­des­gericht, möge in Erwä­gung zu ziehen sein, wenn sich die natür­liche Per­son, die gegen die Zeu­gen­vor­ladung vorge­he, aus eigen­em Recht auf die Ein­hal­tung des nemo-tene­tur-Grund­satzes berufe. Per­so­n­en, die selb­st nicht vom Schutzbere­ich des nemo-tene­tur-Grund­satzes erfasst seien, wür­den durch die Zeu­genein­ver­nahme jedoch (jeden­falls mit Blick auf die Ein­hal­tung dieser straf­prozes­sualen Garantie) keinen nicht wieder gutzu­machen­den Nachteil erlei­den (jew­eils E. 3.2.3). Die Beschw­erde des Unternehmens wäre daher nur dann zuläs­sig gewe­sen, wenn es hin­re­ichend sub­stanzi­iert hätte, dass es selb­st durch die Zeu­gen­be­fra­gung einen nicht wieder gutzu­machen­den Nachteil (ins­beson­dere in Form ein­er Ver­let­zung des nemo-tene­tur-Grund­satzes) erlei­den kön­nte. Davon sei, unter Ver­weis auf das vorste­hend zusam­menge­fasste Urteil 2C_383/2020, nicht auszuge­hen. Das Unternehmen könne damit vor­liegend aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK nichts für sich ableit­en. Wie es sich insoweit mit der späteren Arbeit­ge­berin der natür­lichen Per­son ver­halte, gegen welche sich die Unter­suchung der Weko eben­falls richte, sei hier nicht zu klären, da diese Gesellschaft die strit­tige Zeu­gen­vor­ladung nicht ange­focht­en hätte. Ob es der zugun­sten dieses Unternehmens anwend­bare nemo-tene­tur-Grund­satz erlaube, dass eine natür­liche Per­son in einem gegen mehrere Unternehmen geführten Kartell­sank­tionsver­fahren ein­mal als Zeu­g­in (mit Pflicht zur wahrheits­gemässen Aus­sage) und ein­mal als Parteivertreterin (mit Aus­sagev­er­weigerungsrecht) befragt werde, müsse daher offen gelassen wer­den (BGer 2C_87/2020, E. 3.3). Auf die Beschw­erde der natür­lichen Per­son hätte, so das Bun­des­gericht, gar nicht einge­treten wer­den dür­fen, da natür­liche Per­so­n­en grund­sät­zlich nicht nach Art. 49a KG sank­tion­iert wer­den kön­nten. Da die Unter­suchung einzig gegen Finanz­di­en­stleis­ter, die als juris­tis­che Per­so­n­en organ­isiert seien, gerichtet sei, hätte sich die natür­liche Per­son vor dem Bun­desver­wal­tungs­gericht nicht aus eigen­em Recht auf den nemo-tene­tur-Grund­satz berufen kön­nen (BGer 2C_88/2020, E. 3.3.1–3.3.3).