5A_1048/2019: Aktienkurse börsenkotierter Gesellschaften nicht notorisch

Im Urteil 5A_1048/2019 vom 30.6.2021 beurteilte das Bun­des­gericht erst­mals, ob Aktienkurse börsenkotiert­er Gesellschaften offenkundi­ge (sog. notorische) Tat­sachen darstellen, die von den Parteien wed­er behauptet noch bewiesen wer­den müssen.

Ein Schei­dungs­gericht bew­ertete in seinem Urteil vom 16.10.2018 ein Aktien­de­pot des Ehe­mannes mit den Aktienkursen per 8.10.2018, wobei es diese ein­er von der Ehe­frau an der Hauptver­hand­lung ein­gere­icht­en Auf­stel­lung der Börsenkurse ent­nahm. Vor Bun­des­gericht stellte sich der Ehe­mann auf den Stand­punkt, Aktienkurse börsenkotiert­er Gesellschaften seien notorisch. Das Schei­dungs­gericht hätte das Aktien­de­pot deshalb per Urteils­da­tum — dem nach Art. 214 Abs. 1 ZGB mass­geben­den Zeit­punkt — neu bew­erten müssen und nicht auf die von der Ehe­frau an der Hauptver­hand­lung behaupteten Werte abstellen dür­fen. Fern­er, so der Ehe­mann, hätte das Beru­fungs­gericht die Aktienkurse auf ihr Urteils­da­tum hin nochmals aktu­al­isieren müssen. Zu diesen Zeit­punk­ten hat­te das Depot gegenüber dem 8.10.2018 rund Fr. 190‘000.— bzw. rund Fr. 130‘000.— an Wert eingebüsst.

Das Bun­des­gericht erwog, es sei nicht zu bean­standen, wenn das Beru­fungs­gericht für den Zeit­punkt der güter­rechtlichen Auseinan­der­set­zung das Datum des erstin­stan­zlichen Urteils als mass­gebend erachtete, da es nicht refor­ma­torisch über den güter­rechtlichen Aus­gle­ich­sanspruch entsch­ieden habe. Zu prüfen sei, ob das Schei­dungs­gericht von Amtes wegen die Börsenkurse per Urteils­da­tum hätte her­anziehen müssen, weil es sich bei den Kursen um notorische Tat­sachen han­delt. Bei Wech­selkursen — wom­it man die Aktienkurse am ehesten ver­gle­ichen könne — habe das Bun­des­gericht die Noto­ri­etät bejaht. Dies mit der Begrün­dung, Wech­selkurse kön­nten von jed­er­mann im Inter­net, in amtlichen Pub­lika­tio­nen oder in der Presse kon­trol­liert wer­den. Auch Aktien­werte börsenkotiert­er Unternehmen seien ohne Weit­eres im Inter­net abruf­bar. Aktienkurse wür­den inner­halb eines einzi­gen Tages jedoch starken Schwankun­gen unter­liegen. Es sei bere­its fraglich, ob für ein in der Ver­gan­gen­heit liegen­des Datum auf den Schluss­wert oder einen anderen Wert abzustellen wäre.  Fern­er wür­den Aktien zum Teil an mehreren Börsen gehan­delt, woraus unter­schiedliche Kurse für diesel­ben Wert­pa­piere resul­tieren kön­nen. Zudem bestün­den für Aktienkurse börsenkotiert­er Unternehmen man­nig­faltige Quellen, die teil­weise gar min­im voneinan­der abwe­ichende Werte ausweisen. Auch für den Wech­selkurs existiere eine Vielzahl von Quellen, was mit der Grund sein dürfte, weshalb die Dok­trin an der entsprechen­den bun­des­gerichtlichen Recht­sprechung Kri­tik geäussert habe. Das Bun­des­gericht habe in der Folge auch präzisiert, dass eine Infor­ma­tion aus dem Inter­net nur als notorisch gelte, wenn sie leicht zugänglich sei und aus ver­lässlichen Quellen stam­men, ihr mithin ein offizieller Anstrich anhafte. Aktienkursen börsenkotiert­er Unternehmen hafte kein solch offizieller Anstrich an. Dem­nach seien sie nicht notorisch  (E. 3.6).

Der Argu­men­ta­tion des Ehe­manns sei damit der Boden ent­zo­gen. Zu Recht habe die Vorin­stanz befun­den, die Ehe­frau habe ihre Auf­stel­lung der Börsenkurse an der Hauptver­hand­lung vor dem Schei­dungs­gericht rechtzeit­ig ein­gere­icht, zumal sie die aktuellen Kurse vorher nicht ken­nen kon­nte. Bun­desrecht­skon­form sei auch, dass das Schei­dungs­gericht seinem Urteil Börsenkurse zugrunde gelegt habe, die wenige Tage vor Urteils­da­tum gal­ten. Auch aus dem Umstand, dass das erstin­stan­zliche Urteil vom 16.10.2018 erst am 21.3.2019 (sic!) an die Parteien ver­sandt wurde, ergebe sich keine Ver­let­zung von Art. 214 Abs. 1 ZGB. Mass­gebend für den Wert der bei der Auflö­sung des Güter­standes vorhan­de­nen Errun­gen­schaft sei der Tag der Urteils­fäl­lung und nicht des Urteilsver­sands (E. 3.7).

Das neue Urteil des Bun­des­gerichts ist für Scheidungsanwält:innen von gross­er Bedeu­tung. Kün­ftig wird die umsichtige Scheidungsanwält:in ihre Behaup­tun­gen und Belege bezüglich Aktienkurse börsenkotiert­er Unternehmen an der Hauptver­hand­lung oder im schriftlichen Schlussvor­trag aktu­al­isieren müssen. Sollte das Urteil daraufhin län­gere Zeit auf sich warten lassen, drän­gen sich weit­ere Noveneingaben auf, weil die behaupteten Aktienkurse anson­sten nicht mehr nahe genug an der Urteils­fäl­lung liegen und dem Urteil nicht zugrunde gelegt wer­den können.

Ob das Bun­des­gericht kün­ftig Wech­selkurse noch als notorisch qual­i­fiziert, bleibt vor­erst offen. Der Grund­stein für eine Recht­sprechungsän­derung ist mit diesem Urteil sicher­lich gelegt. Das Bun­des­gericht räumt ein, dass auch Wech­selkursen der für Noto­ri­etät notwendi­ge offizielle Anstrich abgeht.