4A_145/2021: Berufsmässige Vertretung durch Gewerkschaft; falsches Rechtsmittel

Im Rah­men ein­er Beschw­erde eines ehe­ma­li­gen Arbeit­nehmers befasste sich das Bun­des­gericht im Urteil 4A_145/2021 vom 27. Okto­ber 2021 mit der Frage, ob ein­er durch eine Gew­erkschaft vertrete­nen Partei im Sinne von Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO bei Ver­fahrens­fehlern diesel­ben Prozess­fol­gen dro­hen wie bei anwaltlich­er Vertretung.

Hin­ter­grund des Ver­fahrens war die rück­wirk­ende Ein­stu­fung des Beschw­erde­führers als Arbeit­nehmer der Beschw­erdegeg­ner­in (anstelle eines Selb­ständi­ger­wer­ben­den), woraufhin die zuständi­ge kan­tonale Aus­gle­ich­skasse die oblig­a­torischen Sozialver­sicherungs­beiträge von der Arbeit­ge­berin ein­forderte. Die Arbeit­ge­berin wiederum klagte gegen den Arbeit­nehmer auf Zahlung des auf die Arbeit­nehmer­beiträge ent­fal­l­en­den Anteils. Der durch eine Gew­erkschaft vertretene Arbeit­nehmer set­zte sich dage­gen zur Wehr und machte widerk­lageweise eigene Ansprüche aus dem Ver­tragsver­hält­nis gel­tend. Das erstin­stan­zliche Gericht verurteilte den Beschw­erde­führer in Abweisung der Widerk­lage zur Zahlung von CHF 10’064.00 zzgl. Zin­sen. Dage­gen erhob der Beschw­erde­führer, erneut vertreten durch die Gew­erkschaft, Beschw­erde. Auf die Beschw­erde trat die Vorin­stanz des Bun­des­gerichts nicht ein, da es sich um das falsche Rechtsmit­tel han­delte und dieses – trotz richtiger Rechtsmit­tel­belehrung auf dem erstin­stan­zlichen Urteil – bewusst gewählt wor­den sei (E. 2).

Strit­tig war vor Bun­des­gericht, ob das Oberg­ericht des Kan­tons Tessin das falsche Rechtsmit­tel der Beschw­erde in eine Beru­fung hätte umwan­deln müssen. Der Beschw­erde­führer machte gel­tend, die Vorin­stanz hätte hin­sichtlich der rechtlichen Kon­se­quen­zen eines falschen Rechtsmit­tels zwis­chen der Prozessvertre­tung durch eine Gew­erkschaft und jen­er durch einen Recht­san­walt unter­schei­den müssen. Obwohl im Kan­ton Tessin die Vertre­tungs­befug­nis ein­er Gew­erkschaft auf arbeit­srechtliche Stre­it­igkeit­en beschränkt sei, habe diese in Gerichtsver­fahren nicht notwendi­ger­weise dieselbe Exper­tise und Erfahrung (E. 3). Dem­nach hätte die Vorin­stanz nach dem Dafürhal­ten des Beschw­erde­führers die Eingabe an die zuständi­ge Kam­mer über­mit­teln und in eine Beru­fung umwan­deln müssen (E. 4 f.).

Das Bun­des­gericht erwog zunächst, dass das kan­tonale Recht die beruf­s­mäs­sige Vertre­tung durch eine Gew­erkschaft auf Stre­it­igkeit­en im vere­in­facht­en bzw. sum­marischen Ver­fahren vor dem Arbeits­gericht beschränke (Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO i.V.m. Art. 12 Abs. 1 lit. b LACPC/TI). Im Rah­men der durch die ZPO und das kan­tonale Recht zuläs­si­gen Vertre­tungs­befug­nis ein­er Gew­erkschaft unter­liege dieselbe kein­er­lei Ein­schränkun­gen, weshalb die gew­erkschaftliche Vertre­tung der­jeni­gen eines Recht­san­walts gle­ichzustellen sei (E. 3). Dementsprechend beste­he, so das Bun­des­gericht, auch hin­sichtlich der Fol­gen ein­er falschen Prozesshand­lung kein Grund, der eine unter­schiedliche Behand­lung der anwaltlichen Vertre­tung von der Vertre­tung durch eine Gew­erkschaft recht­fer­ti­gen würde (E. 5.2.2).

Eine Kon­ver­sion sei denkbar, wenn die Wahl des richti­gen Rechtsmit­tels beson­dere Schwierigkeit­en bere­ite und nicht leicht zu erken­nen sei. Voraus­set­zung für die Zuläs­sigkeit sei fern­er, dass die Anforderun­gen des kor­rek­ten Rechtsmit­tels erfüllt seien und die Eingabe ins­ge­samt umge­wan­delt wer­den könne. Die Kon­ver­sion sei allerd­ings, aus­geschlossen, wenn eine beru­flich vertretene Partei bewusst ein bes­timmtes Rechtsmit­tel ein­gere­icht habe, obwohl sie nicht in Unken­nt­nis der Fehler­haftigkeit habe sein kön­nen (E. 5.1; mit weit­eren Verweisen).

Das Bun­des­gericht bestätigte die Erwä­gun­gen des Nichtein­tretensentschei­ds des Tessin­er Oberg­erichts, wonach der Beschw­erde­führer das Rechtsmit­tel bewusst als Beschw­erde ein­gere­icht habe. Dafür hät­ten mehrere Indizien gesprochen; ins­beson­dere die Beti­tlung der Rechtss­chrift als Beschw­erde («reclamo») statt Beru­fung («appel­lo»), die Behaup­tung die Beschw­erde­frist sei einge­hal­ten, die Bezug­nahme auf Art. 320 ZPO sowie weit­ere klare Hin­weise auf den Beschw­erdecharak­ter in der Rechtss­chrift. Dem­nach hätte die Gew­erkschaft als Vertreterin des Beschw­erde­führers die Fehler­haftigkeit des Rechtsmit­tels mit der gebühren­den Sorgfalt erken­nen müssen (E. 5.2.1).

 

Die Redak­torin dankt MLaw Dario Piz­za­to, Trainee Lawyer bei Ever­sheds Suther­land AG, für die tatkräftige Unter­stützung bei der Auf­bere­itung dieses ital­ienis­chsprachi­gen Entscheids.