5A_776/2021: Freiburger Rechtsprechung zum “theoretischen Einkommen”

Das Bun­des­gericht set­zt sich im Urteil 5A_776/2021 vom 21.6.2022 mit der Recht­sprechung des Kan­ton­s­gerichts Freiburg zum soge­nan­nten “the­o­retis­chen Einkom­men” auseinan­der. Im konkreten Fall erachtet es die Anwen­dung dieser Recht­sprechung im Beru­fungsver­fahren als willkürlich.

Vorbe­merkung

Gemäss der Recht­sprechung des Kan­ton­s­gerichts Freiburg ist ein Manko des obhuts­berechtigten Eltern­teils nur insoweit über den Betreu­ung­sun­ter­halt auszu­gle­ichen, als dieses auf die Kinder­be­treu­ung zurück­zuführen ist. Arbeit­et der obhuts­berechtigte Eltern­teil in einem tief­er­en Pen­sum, als es ihm auf­grund des Schul­stufen­mod­ells zumut­bar wäre, ist zu prüfen, welch­es Einkom­men der obhuts­berechtigte Eltern­teil mit dem ihm zumut­baren Arbeit­spen­sum the­o­retisch erzie­len kön­nte. Über den Betreu­ung­sun­ter­halt ist einzig die Dif­ferenz zwis­chen diesem the­o­retis­chen Einkom­men und den Aus­la­gen auszu­gle­ichen. Das restliche Manko ist, sofern die finanziellen Mit­tel aus­re­ichen, über den Ehe­gat­te­nun­ter­halt zu decken.

Das the­o­retis­che Einkom­men ist vom hypo­thetis­chen Einkom­men unter­schei­den. Anders als let­zteres kann es ab Erre­ichung der entsprechen­den Schul­stufe ohne Über­gangs­frist und auch für die Zeit zwis­chen Recht­shängigkeit und Urteil berück­sichtigt wer­den. Es dient einzig dazu, jenen Anteil des Mankos zu bes­tim­men, der auf die Kinder­be­treu­ung zurück­zuführen und über den Betreu­ung­sun­ter­halt auszu­gle­ichen ist. Ob für die Zukun­ft und nach Gewährung ein­er Über­gangs­frist ein hypo­thetis­ches Einkom­men anzurech­nen ist, hat das Gericht erst in einem zweit­en Schritt zu prüfen (vgl. zum Ganzen Leiturteil KG FR 101 2019 146 vom 26.8.2019 E. 2.3.2, in: FZR 2019 63 sowie das Urteil KG FR 101 2020 144 vom 21.8.2020 E. 2.2).

Urteil­szusam­men­fas­sung

Im hier besproch­enen Fall strich das Kan­ton­s­gericht Freiburg auf­grund sein­er Recht­sprechung zum the­o­retis­chen Einkom­men den erstin­stan­zlich noch zuge­sproch­enen Betreu­ung­sun­ter­halt. Gle­ichzeit­ig ver­weigerte es der obhuts­berechtigten Mut­ter die Erhöhung des Ehe­gat­te­nun­ter­halts, mit der Begrün­dung, sie habe dies­bezüglich keine Beru­fung erhoben und es gelte der Dis­po­si­tion­s­grund­satz. Dage­gen wehrte sich die Mut­ter vor Bun­des­gericht. Sie kri­tisierte die Freiburg­er Recht­sprechung zum the­o­retis­chen Einkom­men und wandte zudem ein, sie habe gar keine Beru­fung betr­e­f­fend Ehe­gat­te­nun­ter­halt erheben kön­nen, da die erste Instanz ihrem Antrag voll entsprochen habe.

Das Bun­des­gericht erwägt, ein Teil der Lehre spreche sich im Sinne der Freiburg­er Recht­sprechung dafür aus, Betreu­ung­sun­ter­halt nur insoweit zuzus­prechen, als das Manko des obhuts­berechtigten Eltern­teil durch die Kinder­be­treu­ung bed­ingt sei. Es sei somit kein Betreu­ung­sun­ter­halt zu sprechen, wenn der obhuts­berechtigte Eltern­teil die betreu­ungs­freie Zeit nicht für eine Erwerb­stätigkeit ein­set­ze, obwohl ihm dies zumut­bar wäre.  In diesem Fall sei das Manko nicht Folge der Kinder­be­treu­ungspflicht­en, son­dern Folge eines freien Entschei­ds des obhuts­berechtigten Eltern­teils, der nicht über den Betreu­ung­sun­ter­halt zu entschädi­gen sei.  Ein ander­er Teil der Lehre sei dage­gen der Ansicht, eine auf Kausal­ität­ser­wä­gun­gen aus­gerichtete Argu­men­ta­tion laufe dem Zweck des Betreu­ung­sun­ter­halts zuwider.

Welch­er Lehrmei­n­ung das Bun­des­gericht fol­gen will, lässt es in der Folge offen. Es sei jeden­falls willkür­lich, wenn das Kan­ton­s­gericht der Beschw­erde­führerin vor­w­erfe, im Beru­fungsver­fahren keine Anträge betr­e­f­fend Ehe­gat­te­nun­ter­halt gestellt zu haben. Da Eheschutz­mass­nah­men in Frage stün­den, die dem sum­marischen Ver­fahren unter­liegen, habe die Beschw­erde­führerin keine Anschluss­beru­fung ein­le­gen kön­nen. Auch eine “vor­sor­gliche” Haupt­beru­fung habe die Beschw­erde­führerin nicht erheben kön­nen, da die erste Instanz ihre Anträge gut­ge­heis­sen habe, so dass auf die Beru­fung man­gels Rechtss­chutz­in­ter­esse nicht einzutreten gewe­sen wäre. Das Kan­ton­s­gericht Freiburg habe in seinem Leit­entscheid zum “the­o­retis­chen Einkom­men” selb­st bemerkt, dass in einem solchen Fall nach Würdi­gung der konkreten Umstände allen­falls drauf zu verzicht­en sei, das the­o­retis­che Einkom­men rück­wirk­end anzurech­nen. Willkür­lich sei das Urteil zudem auch im Ergeb­nis, da der Beschw­erde­führerin erhe­bliche Beiträge voren­thal­ten wür­den, obwohl sie im erstin­stan­zlichen Ver­fahren für den Fall, dass kein Betreu­ung­sun­ter­halt gesprochen würde, wesentlich höheren Ehe­gat­te­nun­ter­halt ver­langt habe.

Kom­men­tar

Das Bun­des­gericht lässt offen, ob die Freiburg­er Recht­sprechung zum “the­o­retis­chen Einkom­men” mit Bun­desrecht vere­in­bar ist, da es das Kan­ton­s­gericht­surteil bere­its aus prozes­sualen Grün­den aufhebt. Nach hier vertreten­er Ansicht überzeugt die Freiburg­er Recht­sprechung. Betreu­ung­sun­ter­halt ist nur geschuldet, wenn das Manko des obhuts­berechtigten Eltern­teils kausal auf Kinder­be­treu­ungspflicht­en zurück­zuführen ist. In diesem Sinne hat im Urteil 5A_503/2020 vom 16.12.2020 (E. 6) auch das Bun­des­gericht entsch­ieden. Es schützte den Entscheid der Vorin­stanz, dem obhuts­berechtigten Eltern­teil Betreu­ung­sun­ter­halt zu ver­weigern, weil dieser unab­hängig von Kinder­be­treu­ungspflicht­en bere­its aus medi­zinis­chen Grün­den kein­er Arbeit nachge­hen kon­nte. Bedeu­tung hat die Freiburg­er Recht­sprechung ins­beson­dere für Kinder unver­heirateter Eltern, da dort das verbleibende Manko des obhuts­berechtigten Eltern­teils nicht über den Ehe­gat­te­nun­ter­halt aus­geglichen wer­den kann.

Abschliessend sei in prozes­sualer Hin­sicht die Frage aufge­wor­fen, ob das Obsiegen der Beschw­erde­führerin im erstin­stan­zlichen Ver­fahren es ihr tat­säch­lich verun­möglichte, in der Beru­fungsant­wort Even­tu­al­begehren zu stellen. Das Kan­ton­s­gericht Luzern hat in einem kür­zlich pub­lizierten Leit­entscheid mit Ver­weis auf die Lehre Even­tu­al­begehren in der Beru­fungsant­wort in dieser Kon­stel­la­tion für zuläs­sig gek­lärt (LGVE 2022 II Nr. 3). Hätte das Bun­des­gericht eben­so entsch­ieden, wäre das Urteil aus prozes­sualen Grün­den nicht zu bean­standen gewe­sen und das Bun­des­gericht hätte sich zur Bun­desrecht­skon­for­mität der Freiburg­er Recht­sprechung äussern können.