5A_782/2021: Widerruf der Prozessstandschaftserklärung zur Geltendmachung von Volljährigenunterhalt

Im Urteil 5A_782/2021 vom 29.6.2022 hält das Bun­des­gericht fest, ein im Laufe des Ver­fahrens volljährig gewor­denes Kind könne die seinem Eltern­teil zu Beginn des Ver­fahrens erteilte Zus­tim­mung zur Gel­tend­machung von Unter­halts­beiträ­gen in Prozess­stand­schaft nachträglich wider­rufen. Das Gericht hat dann einzig noch über den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt zu befind­en; auf Anträge betr­e­f­fend Volljähri­ge­nun­ter­halt hat es nicht einzutreten.

Urteil­szusam­men­fas­sung

Das Bun­des­gericht räumt Eltern die Befug­nis ein, ver­mö­gen­srechtliche Ansprüche ihrer Kinder in eigen­em Namen vor Gericht als sog. Prozess­stand­schafter gel­tend zu machen. Diese Befug­nis set­zt das Beste­hen der elter­lichen Sorge voraus und endet dem­nach mit der Volljährigkeit des Kindes. Wird das Kind während eines laufend­en Ver­fahrens volljährig, kann der Eltern­teil das Ver­fahren mit Zus­tim­mung des Kindes indes in eigen­em Namen weit­er­führen. Im vor­liegend besproch­enen Fall hat­te das Kind sein­er Mut­ter diese Zus­tim­mung zuerst erteilt, später jedoch wider­rufen. Die Vorin­stanzen sprachen der Mut­ter daher die Prozess­führungs­befug­nis sowohl betr­e­f­fend Min­der­jähri­gen- als auch Volljähri­ge­nun­ter­halt ab und trat­en auf die entsprechen­den Anträge nicht ein. Dage­gen wehrte sich die Mut­ter vor Bundesgericht.

Das Bun­des­gericht wid­mete sich zuerst den Auswirkun­gen des Wider­rufs auf den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt. Es erwog, im unselb­ständi­gen Unter­halt­sprozess sei die Prozess­stand­schaft der Eltern eine geset­zliche; für das Schei­dungsver­fahren ergebe sie sich aus Art. 133 Abs. 1 Ziff. 4 ZGB. Das Ende ein­er geset­zlichen Prozess­führungs­befug­nis richte sich nicht nach ein­er Wil­lenserk­lärung, son­dern nach dem Gesetz. Der Wort­laut der genan­nten Bes­tim­mung lasse keinen Raum für die Recht­sauf­fas­sung, dass bei fehlen­dem Ein­ver­ständ­nis des während des Schei­dung­sprozess­es volljährig gewor­de­nen Kindes die Prozess­stand­schaft des antrag­stel­len­den Eltern­teils für den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt rück­wirk­end dahin­falle. Auch der Umstand, dass das Kind allfäl­lig ihm zuge­sproch­enen Unter­halt nicht beanspruchen wollen kön­nte, lasse das Ver­fahren nicht obso­let wer­den. Der Unter­halt­sti­tel diene als Grund­lage bzw. Aus­gangspunkt für allfäl­lige Ansprüche der Mut­ter gegenüber dem Kind für vorgeschossene Unter­halt­sleis­tun­gen. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde in diesem Punkt daher gut (E. 3.4).

Anschliessend wid­mete es sich den Auswirkun­gen des Wider­rufs auf den Volljähri­ge­nun­ter­halt. Bis­lang habe es sich nicht zur Frage geäussert, ob eine ein­mal erteilte Ermäch­ti­gung zur Weit­er­führung der Prozess­stand­schaft wider­ru­flich sei. Aus sein­er Recht­sprechung erhelle indessen, dass die Aufrechter­hal­tung der Prozess­stand­schaft für den Volljähri­ge­nun­ter­halt den Inter­essen des während dem Schei­dungsver­fahren volljährig gewor­de­nen Kindes dienen solle. Dies gelte es in den Vorder­grund zu rück­en. Anders als etwa im Fall der Prozessüber­nahme durch die stre­it­berufene Partei liege das Inter­esse am Ver­fahren­saus­gang betr­e­f­fend den Volljähri­ge­nun­ter­halt nicht haupt­säch­lich beim Eltern­teil als Prozess­stand­schafter, son­dern weit­er­hin beim Kind als Recht­sträger. Es sei daher nur fol­gerichtig, wenn das Kind seine Zus­tim­mung zur Prozess­stand­schaft wider­rufen kön­nen. Immer­hin könne das Kind auch in einem selb­ständi­gen Unter­halt­sprozess seine Klage wieder zurückziehen. Es sei nicht ein­sichtig, weshalb dies dem volljähri­gen Kind im durch Prozess­stand­schaft des vor­mals sorge­berechtigten Eltern­teils geführten Ver­fahren ver­wehrt sein soll. In diesem Punkt wies das Bun­des­gericht die Beschw­erde daher ab (E. 3.5).

Kom­men­tar

Die Erwä­gun­gen des Bun­des­gerichts zur Zuläs­sigkeit des Wider­rufs der Prozess­stand­schaft­serk­lärung überzeu­gen. Je nach Ver­fahrenssta­di­um und Grund des Wider­rufs kann es allerd­ings angezeigt sein, dem volljähri­gen Kind dies­falls für die bish­er ange­fal­l­enen Aufwen­dun­gen gestützt auf Art. 108 ZPO Kosten aufzuerlegen.

Kri­tisch zu würdi­gen sind die Erwä­gun­gen des Bun­des­gerichts zur Auswirkung des Wider­rufs auf den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt. In BGE 142 III 78 E. 3.3 erwog das Bun­des­gericht, die aus Art. 318 Abs. 1 ZGB fliessenden Befug­nisse der Eltern zur Gel­tend­machung ver­mö­gen­srechtlich­er Ansprüche des Kindes in Prozess­stand­schaft wür­den auch dann mit der Volljährigkeit des Kindes enden, wenn die Forderun­gen noch während der Min­der­jährigkeit hät­ten erfüllt wer­den müssen. Art. 318 Abs. 1 ZGB knüpfe einzig an den Zeit­punkt des Wech­sels von Min­der- zu Volljährigkeit an und nicht an die Recht­snatur von Objek­ten des Kindesver­mö­gens oder den Zeit­punkt der Fäl­ligkeit von Forderun­gen im Kindesver­mö­gen. Entsprechend wäre vor­liegend gestützt auf Art. 318 Abs. 1 ZGB die Prozess­führung­befug­nis der Mut­ter wegen der während des Ver­fahrens einge­trete­nen Volljährigkeit des Sohnes für den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt ent­fall­en. Damit hätte eine Prozessvo­raus­set­zung gefehlt und auf die entsprechen­den Anträge wäre nicht einzutreten gewe­sen. Das abwe­ichende Urteil des Bun­des­gerichts begrün­det sich damit, dass es die Prozess­stand­schaft im Schei­dungsver­fahren und im dies­bezüglichen Ergänzungsver­fahren aus Art. 133 Abs. 1 Ziff. 4 ZGB ableit­et. Diese Bes­tim­mung sieht keinen Weg­fall der Prozess­führungs­befug­nis für den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt vor, wenn das Kind während dem Ver­fahren volljährig wird. Ausser­halb des Schei­dungsver­fahrens ist diese Norm allerd­ings nicht ein­schlägig. Es ist daher fraglich, ob sich die Erwä­gun­gen des Bun­des­gerichts betr­e­f­fend Wirkun­gen des Wider­rufs auf den Min­der­jähri­ge­nun­ter­halt auch auf andere Ver­fahren, ins­beson­dere selb­ständi­ge Unter­halt­skla­gen, über­tra­gen lassen.