5A_744/2022: Einbezug der Eltern beim Annexentscheid über die elterliche Sorge im Rahmen einer Vaterschafts- und Unterhaltsklage

Im Urteil 5A_744/2022 vom 9. Juni 2023 hält das Bun­des­gericht fest, dass bei einem Annex­entscheid über die elter­liche Sorge im Rah­men ein­er Vater­schafts- und Unter­halt­sklage bei­de Eltern­teile förm­lich in den Prozess einzubeziehen sind. Andern­falls ist das Urteil zumin­d­est hin­sichtlich der elter­lichen Sorge als nichtig zu qualifizieren.

Zusam­men­fas­sung

Im zu beurteilen­den Fall reichte ein geset­zlich durch seine Mut­ter vertretenes Kind gegen den mut­masslichen Vater eine Vater­schafts- und Unter­halt­sklage ein. Die Vater­schaft­sklage wurde in der Folge zufolge Anerken­nung der Vater­schaft abgeschrieben und das Kind unter Zuteilung der alleini­gen Obhut an die Mut­ter unter die gemein­same elter­liche Sorge bei­der Eltern gestellt. Die Vorin­stanzen trafen weit­ere, hier nicht inter­essierende, Regelun­gen. Gegen die ange­ord­nete gemein­same elter­liche Sorge erhob das Kind, geset­zlich vertreten durch seine Mut­ter, Beschw­erde ans Bun­des­gericht. Es beantragte unter anderem sin­ngemäss, es sei festzustellen, dass das Urteil nichtig sei, weil die Mut­ter nicht hin­re­ichend in den Prozess ein­be­zo­gen wor­den sei.

Das Bun­des­gericht erwog, dass seit dem Inkraft­treten des rev­i­dierten Kindesun­ter­halt­srechts das mit ein­er Unter­halt­sklage befasste Gericht auch über die elter­liche Sorge sowie die weit­eren Kinder­be­lange entschei­de (Art. 304 Abs. 2 ZPO). Wie im vor­liegen­den Fall sei damit das mit ein­er Vater­schafts- und Unter­halt­sklage angerufene Gericht auch zur Regelung der elter­lichen Sorge und der weit­eren Kinder­be­lange zuständig. Dies könne dazu führen, dass ein Eltern­teil im Prozess, der zuerst nur die Vater­schaft und den Unter­halt betr­e­ffe, nicht als Partei, son­dern allen­falls als geset­zlich­er Vertreter des Kindes beteiligt sei, obwohl sich das neu auch die elter­liche Sorge und die weit­eren Kinder­be­lange umfassende Urteil auf seine Rechtsstel­lung auswirke. Das Urteil greife somit in die Rechtsstel­lung ein­er Per­son ein, die nicht Ver­fahrenspartei sei. In dieser Sit­u­a­tion sei der förm­liche Ein­bezug des betrof­fe­nen Eltern­teils in das Ver­fahren notwendig (E. 3.4.1). Ein Urteil ent­falte nur gegenüber jenen Per­so­n­en Wirkung, die am Prozess als Partei beteiligt seien; die Recht­skraft eines Urteils erstrecke sich nicht auf Drittper­so­n­en. Ein Urteil, das in die Rechtssphäre ein­er Per­son ein­greife, die nicht am Prozess beteiligt wor­den sei, lei­de an einem der­art schw­eren Man­gel, dass es als nichtig betra­chtet wer­den müsse (E. 3.4.2 Absatz 1).

Vor­liegend habe die Vorin­stanz kraft der Kom­pe­ten­zat­trak­tion von Art. 304 Abs. 2 ZPO nicht nur über die ursprünglich anhängig gemachte Unter­halts­frage, son­dern auch über die elter­liche Sorge entsch­ieden. Gle­ich­wohl sei die Kindsmut­ter allein als geset­zliche Vertreterin des Kindes am Prozess beteiligt gewe­sen und sei in kein­er Weise förm­lich in diesen ein­be­zo­gen wor­den. Fol­glich berühre das ange­focht­ene Urteil die Rechtsstel­lung der Mut­ter, obwohl diese nicht aus­re­ichend am Prozess beteiligt gewe­sen. Daran ver­möge nichts zu ändern, dass ihr im Ver­fahren ver­stärk­te Mitwirkungsrechte eingeräumt wor­den seien, da dies nicht einem förm­lichen Ein­bezug in den Prozess gle­ichkomme.  Dieser Man­gel des ange­focht­e­nen Entschei­ds habe nach dem Gesagten die Nichtigkeit des Urteils zur Folge, soweit es die gemein­same elter­liche Sorge anordne (E. 3.4.2 Absatz 2).

Kom­men­tar

Das Bun­des­gericht stellt mit diesem Urteil klar, dass bei­de Eltern­teil förm­lich in den Prozess einzubeziehen sind, wenn im Rah­men ein­er Vater­schafts- und/oder Unter­halt­sklage auch über die weit­eren Kinder­be­lange entsch­ieden wird. Es reicht nicht aus, wenn ein Eltern­teil als geset­zliche Vertre­tung des Kindes auftritt und als solche die Rechtsvertre­tung des Kindes instru­iert. Eben­so wenig genügt, wenn ein Eltern­teil an der Gerichtsver­hand­lung anwe­send ist, befragt wird und eine schriftliche Stel­lung­nahme zu den weit­eren Kinder­be­lan­gen ein­re­icht (vgl. E. 3.2 des Urteils).

Das Bun­des­gericht lässt offen, welchen Anforderun­gen der förm­liche Ein­bezug genü­gen muss. Nach­dem die vorste­hend dargelegten Vorkehrun­gen vom Bun­des­gericht als ungenü­gend qual­i­fiziert wur­den, ist jedoch davon auszuge­hen, dass sämtliche Parteirechte zu gewähren sind. Dies geschieht vorzugsweise und am ein­fach­sten durch einen formellen (bei Weigerung von Amtes wegen zu ver­fü­gen­den) Parteibeitritt, sei es auf der kla­gen­den oder der beklagten Seite. Alter­na­tiv dürfte die vom Bun­des­gericht in anderem Zusam­men­hang anerkan­nte Rechts­fig­ur der stre­it­genös­sis­chen Neben­in­ter­ven­tion (vgl. BGE 142 III 629) den Anforderun­gen an den formellen Ein­bezug eben­falls genü­gen, da eine stre­it­genös­sis­che Neben­in­ter­ve­ni­entin den Prozess unab­hängig von der unter­stützen Haupt­partei führen kann (vgl. Lötsch­er, Das Kind im Unter­halt­sprozess, in: Jungo/Fountoulakis [Hrsg.], Der Fam­i­lien­prozess − Beweis, Strate­gien, Durch­set­zung, 2020, S. 132). Die stre­it­genös­sis­che Neben­in­ter­ven­tion ist jedoch nur auf Zutun des Eltern­teils möglich und schei­det daher aus, wenn sich dieser nicht am Prozess beteili­gen möchte (Zogg, Selb­ständi­ge Unter­halt­skla­gen mit Annex­entscheid über die weit­eren Kinder­be­lage − ver­fahren­srechtliche Frage, in: FamPra.ch 2019, S. 24).

Abschliessend sei darauf hingewiesen, dass Art. 304 Abs. 2 ZPO im Zuge der aktuellen Revi­sion der Zivil­prozes­sor­d­nung dahinge­hend ergänzt wer­den soll, dass bei fest­ste­hen­dem Kindesver­hält­nis bei­de Eltern­teile zwin­gend Parteis­tel­lung haben, wobei das Gericht die Parteirollen verteilt. Bei Annex­entschei­den im Zusam­men­hang mit Vater­schaft­skla­gen soll die Bes­tim­mung gemäss Botschaft ana­log gel­ten (Entwurf BBl 2020 2790; Botschaft vom 26. Feb­ru­ar 2020 zur Änderung der Schweiz­erischen Zivil­prozes­sor­d­nung [Verbesserung der Prax­is­tauglichkeit und der Rechts­durch­set­zung], BBl 2020 2769 f.; Ref­er­en­dumsvor­lage BBl 2023 786).