5A_190/2023: Berechnung der 15-monatigen Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG (amtl. Publ.; FR)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_190/2023 vom 3. August 2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, wann die Fristen nach Monaten im SchKG zu laufen beginnen und ab wann die 15-monatige Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG nach Eröffnung des Rechtsöffnungsentscheids wieder zu laufen beginnt. Das Bundesgericht erwog, dass Fristen nach Monaten am nächsten Tag zu laufen beginnen (Art. 31 SchKG i.V.m. Art. 142 Abs. 1 ZPO). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Frist gemäss Art. 166 Abs. 2 SchKG während des Rechtsöffnungsverfahrens stillsteht und ab Zustellung des Rechtsöffnungsentscheids wieder zu laufen beginnt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine provisorische oder eine definitive Rechtsöffnung handelt. Gemäss geltendem Recht ist es nicht bundesrechtswidrig, auf die Zustellung des begründeten Entscheids abzustellen, was sich aber nach dem Inkrafttreten der revidierten Bestimmungen der ZPO verändern wird.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Am 4. Sep­tem­ber 2020 liess B (Gläu­biger) der A SA (Schuld­ner­in) einen Zahlungs­be­fehl über CHF 600’000 zzgl. Zin­sen zustellen (Betrei­bung Nr. xxx des Betrei­bungsamtes des Bezirks Jura-Nord vau­dois). A SA erhob Rechtsvorschlag. Mit Beschluss vom 23. Feb­ru­ar 2021 wurde die pro­vi­sorische Recht­söff­nung erteilt. Dieser Entscheid wurde den Parteien zunächst in unbe­grün­de­ter Form im Dis­pos­i­tiv eröffnet. Der begrün­dete Entscheid wurde den Parteien am 16. April 2021 zugestellt. Eine Kopie dieses Entschei­ds enthält einen Stem­pel vom 26. Mai 2021, der bestätigt, dass kein Rechtsmit­tel dage­gen ein­gelegt wurde.
Am 3. und 30. Juni 2021 bescheinigten das Bezirks­gericht Broye und Nord vau­dois und die kan­tonale Cham­bre pat­ri­mo­ni­ale, dass bei ihnen nach dem oben genan­nten Entscheid keine Aberken­nungsklage ein­gere­icht wor­den war.

Nach Ein­gang des Fort­set­zungs­begehrens wurde A SA am 14. Juli 2022 die Konkur­san­dro­hung zugestellt. Mit Eingabe vom 2. August 2022 stellte B ein Konkurs­begehren gegen A SA. Am 6. Sep­tem­ber 2022 eröffnete der Präsi­dent des Zivil­gerichts des Bezirks Broye und Nord vau­dois den Konkurs über A SA.
Gegen diesen Entscheid erhob A SA Beschw­erde. Mit Eingabe vom 22. Novem­ber 2022 zog B das Konkurs­begehren zurück. Mit Urteil vom 30. Dezem­ber 2022, das den Parteien am 6. Feb­ru­ar 2023 zugestellt wurde, wies der Cour des pour­suites et fail­lites des Kan­ton­s­gerichts Waadt die Beschw­erde ab.

Mit Eingabe vom 6. März 2023 (Post­stem­pel: 7. März 2023) erhob A SA Beschw­erde in Zivil­sachen vor Bun­des­gericht. Mit Ver­fü­gung vom 5. April 2023 erteilte der Präsi­dent der II. zivil­rechtlichen Abteilung der Beschw­erde die auf­schiebende Wirkung in dem Sinne, dass keine Voll­streck­ung­shand­lun­gen des ange­focht­e­nen Entschei­ds vorgenom­men wer­den dür­fen, wobei allfäl­lige vom Amt bere­its getrof­fene vor­sor­gliche Mass­nah­men jedoch in Kraft bleiben.


Berech­nung der Fris­ten nach Monat­en im SchKG

Das Bun­des­gericht stellte klar, dass Fris­ten nach Monat­en im SchKG am Tag nach der Zustel­lung zu laufen begin­nen (Art. 31 SchKG i.V.m. Art. 142 Abs. 1 ZPO) (E. 6.2).


Berech­nung der 15-monati­gen Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG

Im All­ge­meinen

Nach Ablauf von 20 Tagen seit der Zustel­lung der Konkur­san­dro­hung kann der Gläu­biger unter Vor­legung dieser Urkunde und des Zahlungs­be­fehls beim Konkurs­gericht das Konkurs­begehren stellen (Art. 166 Abs. 1 SchKG). Gemäss Art. 166 Abs. 2 SchKG erlis­cht dieses Recht 15 Monate nach der Zustel­lung des Zahlungs­be­fehls. Ist Rechtsvorschlag erhoben wor­den, so ste­ht diese Frist zwis­chen der Ein­leitung und der Erledi­gung eines dadurch ver­an­lassten gerichtlichen Ver­fahrens still, worunter gemäss Recht­sprechung ein voll­streck­bar­er Gericht­sentscheid zu ver­ste­hen ist (E. 5).

Die Frist ste­ht während der Dauer des Anerken­nungsver­fahrens still (Art. 79 und 279 SchKG), ein­schliesslich der Zeit zwis­chen der Erteilung der Klage­be­wil­li­gung (Art. 209 Abs. 1 ZPO) und der rechtzeit­i­gen Klagean­hebung (Art. 209 Abs. 3 ZPO). Sie ste­ht auch während der Dauer des — pro­vi­sorischen oder defin­i­tiv­en — Recht­söff­nungsver­fahrens (Art. 80–83 SchKG), der Aberken­nungsklage (Art. 83 Abs. 2 SchKG) und des Ver­fahrens zur Fest­stel­lung des neuen Ver­mö­gens (Art. 265a SchKG) still. Der Zweck der Ver­wirkungs­frist nach Art. 166 Abs. 2 SchKG beste­ht darin, eine unver­hält­nis­mäs­sige Ver­längerung der Betrei­bungs­dauer zu ver­mei­den. Die Ver­wirkung ist die Strafe für die Untätigkeit des Betreiben­den, weshalb die Frist so lange still­ste­ht, wie das Ver­fahren zur Besei­t­i­gung des Rechtsvorschlags andauert, und erst dann zum Nachteil des Gläu­bigers wieder zu laufen begin­nt, wenn dieser, nach­dem er einen voll­streck­baren Entscheid erhal­ten hat, nichts untern­immt, um die Fort­set­zung der Betrei­bung zu beantra­gen. Da die Konkur­san­dro­hung (Art. 159 ff. SchKG) nur aus- und zugestellt wer­den kann, wenn der Gläu­biger die Besei­t­i­gung des Rechtsvorschlags mit Urkunde bele­gen kann, ste­ht die Frist so lange still, bis er eine öffentliche Bestä­ti­gung vor­legen kann, die die Endgültigkeit und Voll­streck­barkeit des Entschei­ds, mit dem der Rechtsvorschlag beseit­igt wird, belegt. Die Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG ste­ht auch still, wenn eine Beschw­erde gegen die Konkur­san­dro­hung ein­gere­icht und die auf­schiebende Wirkung vor dem Konkurs­begehren erteilt wurde; in diesem Fall ist der Gläu­biger man­gels recht­skräftiger Konkur­san­dro­hung daran gehin­dert, den Konkurs zu beantra­gen. Die Beurteilung, ob das Konkurs­begehren rechtzeit­ig ein­gere­icht wurde, obliegt dem Richter und nicht der Auf­sichts­be­hörde und muss von Amtes wegen erfol­gen (E. 5).

Unter Berück­sich­ti­gung der Dauer des Recht­söff­nungsver­fahrens insbesondere

Im konkreten Fall stellte sich die Frage, ab wann die Frist von Art. 166 Abs. 2 SchKG nach Abschluss des Recht­söff­nungsver­fahrens wieder zu laufen begann. Ins­beson­dere war umstit­ten, ob die Frist

Um diese Frage zu beant­worten, muss bes­timmt wer­den, wann der Recht­söff­nungsentscheid voll­streck­bar wird und damit wann der Gläu­biger befugt ist, die Fort­set­zung der Betrei­bung zu ver­lan­gen und somit eine Konkur­san­dro­hung aus- und zugestellt wer­den kann (E. 6.3).

Unter der alten Gen­fer ZPO (die dem Rechtsmit­tel gegen den Recht­söff­nungsentscheid keine auf­schiebende Wirkung ver­lieh) hat­te das Bun­des­gericht im Urteil 5P.259/2006 vom 12. Dezem­ber 2006 erwogen, dass der Recht­söff­nungsentscheid ab Zustel­lung des Entschei­ds voll­streck­bar war (E. 6.3.1).

Das Bun­des­gericht stellte in der Folge fest, dass die Lehre zu diesem The­ma ges­pal­ten ist, und dass mehrere Autoren (u.a. Stae­he­lin und Berganin) i.Z.m. der pro­vi­sorischen Recht­söff­nung dafür plädieren, dass das Betrei­bungsamt bis zum Ablauf der Frist für die Aberken­nungsklage dem Fort­set­zungs­begehren keine Folge leis­ten könne bzw. dürfe. Das Bun­des­gericht erwog, dass diese Autoren von “prémiss­es théoriques prob­lé­ma­tiques” aus­gin­gen, und ver­warf diese Lehrmei­n­un­gen (E. 6.3.2).

In der Folge rief das Bun­des­gericht in Erin­nerung, dass der Recht­söff­nungsentscheid seit Inkraft­treten der ZPO nach Art. 319 ff. ZPO anfecht­bar ist (Art. 319 lit. a i.V.m. Art. 309 lit. b Ziff. 3 ZPO). Als ausseror­dentlich­es Rechtsmit­tel hemmt die Beschw­erde die Recht­skraft und die Voll­streck­barkeit des ange­focht­e­nen Entschei­ds nicht, der mit dessen Eröff­nung in Recht­skraft erwächst (Art. 325 Abs. 1 ZPO). Ein Recht­söff­nungsentscheid ist damit ab Zustel­lung voll­streck­bar, es sei denn, die Rechtsmit­telin­stanz schiebt die Voll­streck­ung auf (Art. 325 Abs. 2 und 336 Abs. 1 lit. a ZPO); in diesem Fall ist der Entscheid lediglich recht­skräftig (E. 6.3.3).

Das Bun­des­gericht kam damit zum Schluss, dass der voll­streck­bare Recht­söff­nungsentscheid genügt, um die Fort­set­zung der Betrei­bung ohne Weit­eres (auch ohne Voll­streck­barkeits­bescheini­gung) zu beantra­gen und die Konkur­san­dro­hung aus- und zuzustellen, weshalb der Gläu­biger ab Zustel­lung des Recht­söff­nungsentschei­ds han­deln kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die pro­vi­sorische oder defin­i­tive Recht­söff­nung han­delt. Das Betrei­bungsamt darf dem Fort­set­zungs­begehren ab Zustel­lung des Recht­söff­nungsentschei­ds Folge leis­ten, es sei denn, der Beschw­erde wurde die auf­schiebende Wirkung erteilt. Darauf fol­gt, dass der Fris­ten­still­stand ab Zustel­lung des Recht­söff­nungsentschei­ds endet und die Frist nach Art. 166 Abs. 2 SchKG ab diesem Zeit­punkt wieder zu laufen begin­nt (E. 6.3.3).

Schliesslich set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage auseinan­der, ob die Zustel­lung eines unbe­grün­de­ten Entschei­ds im Dis­pos­i­tiv den Fris­ten­still­stand von Art. 166 Abs. 2 SchKG zu been­den ver­mag. Das Bun­des­gericht erwog, dass es angesichts der aktuellen Kon­tro­verse und der befür­wor­tenden Lehrmei­n­un­gen (E. 6.4.1) nicht bun­desrechtswidrig ist, auf den Zeit­punkt der Zustel­lung des begrün­de­ten Recht­söff­nungsentschei­des abzustellen (E. 6.4.4).

Das Bun­des­gericht merk­te in einem obiter dic­tum an, dass die Kon­tro­verse und die unter­schiedlichen kan­tonalen Recht­sprechun­gen mit dem Inkraft­treten der rev­i­dierten Bes­tim­mungen der ZPO [1. Jan­u­ar 2025] obso­let wer­den: Die am 17. März 2023 ver­ab­schiedete Änderung der ZPO sieht in Art. 336 Abs. 3 ZPO vor, dass ein ohne schriftliche Begrün­dung eröffneter Entscheid (Art. 239) unter den Voraus­set­zun­gen nach Absatz 1 voll­streck­bar ist, d. h. wenn er recht­skräftig ist und das Gericht die Voll­streck­barkeit nicht aufgeschoben hat (Art. 336 Abs. 1 lit. a revEZPO, der auf Art. 315 Abs. 4, Art. 325 Abs. 2 und Art. 331 Abs. 2 revEZPO ver­weist) oder wenn er noch nicht recht­skräftig ist, aber die vorzeit­ige Voll­streck­barkeit bewil­ligt wor­den ist (Art. 336 Abs. 1 lit. b revEZPO). In der ersten Fas­sung des Revi­sion­sen­twurfs war vorge­se­hen, dem Gericht, das den Entscheid gefällt hat (d.h. der erstin­stan­zlichen Behörde), die Befug­nis zu über­tra­gen, die vorzeit­ige Voll­streck­barkeit des Entschei­ds oder die auf­schiebende Wirkung anzuord­nen. Schliesslich hat sich der Geset­zge­ber dafür entsch­ieden, diese Kom­pe­tenz der Beschw­erde­in­stanz zuzuweisen. Die Beschw­erde­in­stanz kann somit die Voll­streck­barkeit eines von ein­er erstin­stan­zlichen Behörde erlasse­nen und in unbe­grün­de­ter Form im Dis­pos­i­tiv eröffneten Entschei­ds auf­schieben, wenn der betrof­fe­nen Partei ein nicht leicht wiedergutzu­machen­der Schaden dro­ht. Sie kann dies vor der Ein­re­ichung der Beschw­erde entschei­den. Gegebe­nen­falls ord­net sie Sicherungs­mass­nah­men oder die Leis­tung von Sicher­heit­en an. Ihr Entscheid wird hin­fäl­lig, wenn die Begrün­dung des erstin­stan­zlichen Entschei­ds nicht ver­langt wird oder wenn bis zum Ablauf der Frist kein Rechtsmit­tel ein­gelegt wurde (Art. 325 Abs. 2 revZPO und Art. 315 Abs. 4 revZPO ; vgl. auch Art. 331 Abs. 2 revZPO bezüglich der Revi­sion) (E. 6.4.3).

Aus diesen Grün­den hob das Bun­des­gericht den Entscheid der Vorin­stanz auf. Da das ange­focht­ene Urteil jedoch keine Fest­stel­lun­gen zum Datum der Zustel­lung des begrün­de­ten Entschei­ds enthielt, wies es die Sache zur Neuentschei­dung an die Vorin­stanz zurück (E. 6.5 und 6.6):

6.6. La cause doit donc être ren­voyée à la juri­dic­tion précé­dente pour instruc­tion sur ce point et nou­velle déci­sion. En l’e­spèce, le délai péremp­toire de quinze mois (cf. supra con­sid. 6.1) pour requérir la fail­lite a cou­ru dès le 5 sep­tem­bre 2020 (cf. supra con­sid. 6.2) et a été sus­pendu le 11 sep­tem­bre 2020. Il a recom­mencé à courir le lende­main de la noti­fi­ca­tion du pronon­cé motivé de main­levée pro­vi­soire (cf. supra con­sid. 6.3 et 6.4) — date qu’il appar­tien­dra à l’au­torité can­tonale d’établir — et n’a plus été sus­pendu par la suite (cf. supra con­sid. 6.5).”