4A_639/2023: Eintragungen in ausländischen Handelsregistern sind nicht notorisch (amtl. Publ.)

Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 4A_639/2023 vom 3. April 2024 setzte sich das Bundesgericht im Rahmen eines Rechtsöffnungsverfahrens mit der Frage auseinander, ob ein Eintrag in einem ausländischen Handelsregister gerichtsnotorisch ist. Das Bundesgericht erwog, dass ein solcher Eintrag – im Gegensatz zu den Einträgen in schweizerischen Handelsregistern – nicht gerichtsnotorisch ist.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Gegen die Schuld­ner­in B leit­ete die Sparkasse B eine Betrei­bung beim Betrei­bungskreis X ein. Daraufhin erliess der Betrei­bungskreis X am 27. Sep­tem­ber 2022 einen Zahlungs­be­fehl in der Betrei­bung Nr. xxx für den Betrag von CHF 162’383.12 neb­st Zins zu 4.12 % seit dem 24. Sep­tem­ber 2022 und Zahlungs­be­fehlskosten von CHF 203.30. Als Forderungs­grund wurde Fol­gen­des angegeben:

EUR 169’311.35, umgerech­net zum tage­sak­tuellen Mit­telkurs vom 23.09.2022 von 0.95908

Immo­bil­iar­dar­lehen Kon­to yyy, Grund­schul­durkunde zzz vom 12.04.2012 inkl. Zwangsvoll­streck­ung­sun­ter­w­er­fung, Kündi­gungss­chreiben vom 21.12.2020, Forderungs­berech­nung per 23.09.2022 und Jahreskon­toauszüge 2015 bis 2021.”

Dage­gen erhob B Rechtsvorschlag. Mit Eingabe vom 11. Okto­ber 2022 ver­langte die Sparkasse B beim Einzel­richter am Bezirks­gericht March die Erteilung der defin­i­tiv­en Rechtsöffnung.

Der angerufene Recht­söff­nungsti­tel (Grund­buchbestel­lung­surkunde vom 12. April 2012 resp. Dar­lehensver­trag vom 7. April 2012) nen­nt als Gläu­bigerin die “Sparkasse E”. Im vom Recht­san­walt der Sparkasse B ver­fassten Recht­söff­nungs­ge­such vom 11. Okto­ber 2022 (Rz. 10a) ste­ht dazu einzig: “Die Gesuch­stel­lerin [Sparkasse B] fir­mierte damals unter der Beze­ich­nung ‘Sparkasse E’ “. Diese Behaup­tung wurde nicht durch ein Beweis­mit­tel untermauert.

Das Bezirks­gericht March stellte das Gesuch der Schuld­ner­in zur Stel­lung­nahme zu. Diese bestritt in der Antwort vom 14. Novem­ber 2022 die Gläu­bigeri­den­tität und ins­beson­dere die Firmenänderung.

Mit Ver­fü­gung vom 15. Novem­ber 2022 stellte das Bezirks­gericht March die Gesuch­sant­wort vom 14. Novem­ber 2022 der Gläu­bigerin zu “mit der höflichen Auf­forderung, bis Dien­stag, 6. Dezem­ber 2022 im Sinne des rechtlichen Gehörs eine Stel­lung­nahme” einzure­ichen. In der Ver­fü­gung ste­ht zudem: “Die Parteien wer­den darauf hingewiesen, dass kein zweit­er Schriften­wech­sel ange­ord­net wird.”

In ihrer Stel­lung­nahme vom 23. Dezem­ber 2022 (Rz. 2) machte die Gläu­bigerin neu gel­tend, die Sparkasse B sei “die Recht­snach­fol­gerin der Sparkassen E und F” und reichte  einen Amtlichen Aus­druck durch das Amts­gericht Freiburg i.Br. des Han­del­sreg­is­ters HRA vom 9. Feb­ru­ar 2016 ein. In ihrer Stel­lung­nahme vom 23. Jan­u­ar 2023 ent­geg­nete die Schuld­ner­in, die Behaup­tung der Gesamtrecht­snach­folge und der dies­bezügliche Auszug von 2016 seien neu und dürften nicht berück­sichtigt wer­den. Der Auszug gebe zudem die aktuellen Ver­hält­nisse nicht wieder.

Mit Ver­fü­gung vom 28. Feb­ru­ar 2023 erteilte der Einzel­richter der Gesuch­stel­lerin defin­i­tive Recht­söff­nung für CHF 162’383.12 (= EUR 169’311.35) neb­st Zins zu 5 % über dem Basiszinssatz Deutsch­land (max­i­mal 4.12 % Zins) seit 24. Sep­tem­ber 2022. Dabei bejahte das Bezirks­gericht March die Gläu­bigeri­den­tität unter Hin­weis darauf, die Suche im deutschen Online-Han­del­sreg­is­ter (www.handelsregister.de) habe ergeben, dass der Han­del­sreg­is­ter­auszug, woraus die Fir­menän­derung bzw. die Gesamtrecht­snach­folge ersichtlich sei, sofort abruf­bar und kosten­los ein­se­hbar sei, wom­it von der Noto­ri­etät des Ein­trags auszuge­hen sei.

Dage­gen erhob die Schuld­ner­in Beschw­erde an das Kan­ton­s­gericht Schwyz und beantragte, die ange­focht­ene Ver­fü­gung sei aufzuheben und das Recht­söff­nungs­ge­such vom 11. Okto­ber 2022 abzuweisen. Das Kan­ton­s­gericht wies die Beschw­erde mit Beschluss vom 11. Okto­ber 2023 ab und schützte dabei die Annahme der Noto­ri­etät des Inhalts der Reg­is­tere­in­tra­gun­gen auf www.handelsregister.de. Dage­gen erhob die Schuld­ner­in Beschw­erde beim Bun­des­gericht. Mit Urteil vom 3. April 2024 hiess das Bun­des­gericht die Beschw­erde gut, hob den Beschluss des Kan­ton­s­gerichts Schwyz vom 11. Okto­ber 2023 auf und wies das Recht­söff­nungs­ge­such der Gläu­bigerin ab.


Gericht­sno­torische Tat­sachen im Allgemeinen

Zunächst rief das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zu den gericht­sno­torischen Tat­sachen in Erinnerung:

  •  Offenkundi­ge und gericht­sno­torische Tat­sachen sowie all­ge­mein anerkan­nte Erfahrungssätze bedür­fen keines Beweis­es ( 151 ZPO). Offenkundi­ge (all­ge­mein notorische) Tat­sachen sind all­ge­mein bekan­nte bzw. durch jed­er­mann mit all­ge­mein zugänglichen Mit­teln fest­stell­bare Tat­sachen. Sie müssen wed­er behauptet noch bewiesen wer­den und kön­nen vom Gericht auch bei Gel­tung der Ver­hand­lungs­maxime von Amtes wegen berück­sichtigt wer­den (E. 2.1).
  • Nach der Recht­sprechung des Bun­des­gerichts sind beispiel­sweise Umrech­nungskurse all­ge­mein notorisch, nicht hinge­gen der LIBOR-Zinssatz. Das Bun­des­gericht bejahte sodann die Noto­ri­etät von öffentlich zugänglichen Ein­tra­gun­gen im Han­del­sreg­is­ter, wobei sich alle zitierten Entschei­de auf schweiz­erische Han­del­sreg­is­ter bezo­gen (E. 2.2).

 


Noto­ri­etät von Ein­tra­gun­gen in Han­del­sreg­is­tern insbesondere

Das Bun­des­gericht erwog, dass die Recht­sprechung zur Noto­ri­etät lediglich auf Ein­tra­gun­gen in schweiz­erischen Han­del­sreg­is­tern, hinge­gen nicht auch auf Ein­tra­gun­gen in aus­ländis­chen Han­del­sreg­is­tern über­tra­gen wer­den kann (E. 2.3):

Da notorische Tat­sachen wed­er behauptet noch bewiesen wer­den müssen, sind solche Tat­sachen nur mit Zurück­hal­tung anzunehmen, um nicht die Bewe­is­führungs­grund­sätze und Parteirechte zu unter­laufen. Dies hat das Bun­des­gericht für den vom Unter­suchungs­grund­satz beherrscht­en Ver­wal­tung­sprozess und den Straf­prozess fest­ge­hal­ten (…) und muss umso mehr gel­ten für den Zivil­prozess (ein­schliesslich Recht­söff­nung), der weit­ge­hend dem Ver­hand­lungs­grund­satz unter­ste­ht. Hier ist eine restrik­tive Hand­habe nötig, um die Ver­hand­lungs­maxime nicht auf dem Weg ein­er allzu weit gezo­ge­nen Annahme von Noto­ri­etät aus den Angeln zu heben.”

Das Bun­des­gericht set­zte sich in der Folge mit BGE 149 I 91 E. 3.4 auseinan­der, worauf sich die Vorin­stanz berufen hat­te. Das Bun­des­gericht kam zum Schluss, dass aus dem BGE 149 I 91 E. 3.4 nicht abgeleit­et wer­den kann, dass eine Tat­sache aus ein­er Inter­netquelle, die aus ein­er zuver­läs­si­gen Quelle stammt und leicht zugänglich ist, gericht­sno­torisch ist (E. 2.4):

Vielmehr hat das Bun­des­gericht dort zurück­hal­tende Kri­te­rien geze­ich­net, die erfüllt sein müssen, damit die Annahme von Noto­ri­etät bezüglich öffentlich zugänglichen Inter­netquellen über­haupt in Frage kommt. Dabei hat es Inter­netquellen aus­ländis­ch­er Behör­den ger­ade nicht erwäh­nt. An ander­er Stelle stellte es zudem klar, dass nicht alle Infor­ma­tio­nen, die im Inter­net abruf­bar sind, als notorische Tat­sachen gelten (…).”

Das Bun­des­gericht kam zum Schluss, dass Ein­tra­gun­gen in aus­ländis­chen Han­del­sreg­is­tern vor schweiz­erischen Gericht­en nicht als notorische Tat­sachen im Sinne von Art. 151 ZPO qual­i­fizieren (E. 2.5):

Ein­tra­gun­gen in aus­ländis­chen Han­del­sreg­is­tern müssen auss­chei­den. Davon kann auch für das vom Jus­tizmin­is­teri­um des deutschen Bun­des­lan­des Nor­drhein-West­falen betriebene Online-Han­del­sreg­is­ter www.handelsregister.de keine Aus­nahme gemacht wer­den, auch wenn diese Inter­netquelle ver­lässlich und all­ge­mein zugänglich sein mag. Anson­sten ist unklar, welche aus­ländis­chen Reg­is­ter erfasst wären und welche nicht. Im Inter­esse der Rechtssicher­heit müssen Ein­tra­gun­gen in aus­ländis­chen Han­del­sreg­is­tern daher generell auss­er Betra­cht fall­en (…). Zudem sind der inhaltliche Aus­sagege­halt und die Wirkun­gen von Ein­tra­gun­gen in aus­ländis­chen Han­del­sreg­is­tern nicht ohne weit­eres klar und kön­nen nicht als bekan­nt voraus­ge­set­zt wer­den. Die Erk­lärun­gen der Beschw­erdegeg­ner­in in der Beschw­erdeant­wort zum elek­tro­n­is­chen deutschen Han­del­sreg­is­ter, www.handelsregister.de, der dies­bezüglichen Recht­sprechung des deutschen Bun­des­gericht­shofes sowie zur Pub­liz­itätswirkung des deutschen Han­del­sreg­is­ters ver­mö­gen dies nicht zu wider­legen, son­dern zeigen im Gegen­teil exem­plar­isch auf, dass Gehalt und Wirkung von Ein­tra­gun­gen in aus­ländis­chen Han­del­sreg­is­tern für schweiz­erische Benutzer nicht ohne weit­eres fest­stell­bar und bekan­nt sind.”

Das Bun­des­gericht stellte fest, dass die Gläu­bigerin die Tat­sache der Gesamtrecht­snach­folge und als Beweis­mit­tel den dies­bezüglichen Auszug aus dem deutschen Han­del­sreg­is­ter nicht rechtzeit­ig einge­bracht hat­te, da sie bei­des erst mit der Stel­lung­nahme vom 23. Dezem­ber 2022 auf die Gesuch­sant­wort ein­re­ichte und das Bezirks­gericht aus­drück­lich keinen zweit­en Schriften­wech­sel ange­ord­net hat­te (E. 3.1–3.2). Das Bun­des­gericht erwog ins­beson­dere, dass die neu vorge­brachte Behaup­tung der Gesamtrecht­snach­folge nicht als in der Umfir­mierung mit­be­hauptete Tat­sache bzw. als implizites Sachvor­brin­gen gew­ertet wer­den kann (E. 3.6 und E. 3.7).

Aus diesen Grün­den hiess das Bun­des­gericht die Beschw­erde gut und wies das Recht­söff­nungs­ge­such ab (E. 3.8 und E. 4).