Im Urteil 6B_525/2024 vom 15. Januar 2025 befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Verwertbarkeit einer polizeilichen Erfragung des Entsperrcodes zum Zugriff auf das Mobiltelefon eines Beschuldigten.
Nach dem in Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II verankerten und aus Art. 32 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Grundsatz “nemo tenetur se ipsum accusare” ist im Strafverfahren niemand gehalten, zu seiner Belastung beizutragen, und ist der Beschuldigte aufgrund seines Aussageverweigerungsrechts berechtigt zu schweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen (vgl. Art. 113 Abs. 1 StPO und Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO). Gestützt auf diesen Grundsatz können Beschuldigte nicht dazu verpflichtet werden, den Gerätesperrcode und PIN- oder PUK-Code der SIM-Karte offenzulegen (E. 2.4.2).
Polizei oder Staatsanwaltschaft weisen die beschuldigte Person zu Beginn der ersten Einvernahme in einer ihr verständlichen Sprache darauf hin, dass: (a.) gegen sie ein Vorverfahren eingeleitet worden ist und welche Straftaten Gegenstand des Verfahrens bilden; (b.) sie die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann; (c.) sie berechtigt ist, eine Verteidigung zu bestellen oder gegebenenfalls eine amtliche Verteidigung zu beantragen; sowie (d.) sie eine Übersetzung verlangen kann (Art. 158 Abs. 1 StPO). Einvernahmen ohne diese Hinweise sind nicht verwertbar (Art. 158 Abs. 2 StPO; E. 2.4.3).
Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können, sind bei der Beweiserhebung untersagt (Art. 140 Abs. 1 StPO). Solche Methoden sind auch dann unzulässig, wenn die betroffene Person ihrer Anwendung zustimmt (Art. 140 Abs. 2 StPO). Beweise, die in Verletzung von Art. 140 StPO erhoben wurden, sind in keinem Falle verwertbar. Dasselbe gilt, wenn dieses Gesetz einen Beweis als unverwertbar bezeichnet (Art. 141 Abs. 1 StPO). Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, dürfen nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich (Art. 141 Abs. 2 StPO). Ermöglichte ein Beweis, der in diesem Sinne nicht verwertet werden darf, die Erhebung eines weiteren Beweises, so ist dieser nur dann verwertbar, wenn er auch ohne die vorhergehende Beweiserhebung möglich gewesen wäre (E. 2.4.4).
Die Hinweispflicht gemäss Art. 158 Abs. 1 StPO gilt für die erste formelle, protokollierte Einvernahme i.S.v. Art. 142 ff. StPO. Informelle polizeiliche Befragungen (z.B. der Anwesenden an einem Tat- oder Unfallort) fallen nicht darunter. Solche informellen Befragungen sind jedoch nur im Anfangsstadium polizeilicher Ermittlungen zulässig. Sobald indes die Rollenverteilung klar ist, ist die als strafrechtlich verantwortlich erscheinende Person als Beschuldigte zu behandeln und nach Art. 158 Abs. 1 StPO zu belehren (E. 2.4.5).
Durch das Instrument der informellen Befragung dürfen die Garantien von Art. 158 StPO nicht unterlaufen werden. Die überwiegende Lehre befürwortet hinsichtlich der Belehrungspflichten nach Art. 158 StPO einen materiellen Einvernahmebegriff. Entscheidend ist demnach, ob die Äusserung von einer Strafverfolgungsbehörde provoziert wurde oder nicht. Falls dies zu bejahen ist, ist eine Einvernahmesituation nur dann zu verneinen, wenn die Fragen einzig der Klärung dienen, ob überhaupt ein Verdacht auf eine Straftat vorliegt oder nicht. Bei nicht provozierten Spontanäusserungen ist eine Einvernahmesituation mit Belehrungspflicht dann zu verneinen, wenn durch diese der Tatverdacht erst begründet wird, was allerdings wegen der erhöhten Drucksituation nicht gilt, wenn die Spontanäusserung im Rahmen einer vorläufigen Festnahme erfolgt. Die Begründung für eine so verstandene erste Einvernahme liegt darin, dass sämtliche Angaben einer materiell als Beschuldigte zu betrachtenden Person nur dann verwertbar sein dürfen, wenn diese die Angaben in Kenntnis der ihr zustehenden Rechte macht, insbesondere ihres Mitwirkungsverweigerungsrechts (E. 2.4.5).
Der Schutzgedanke des “nemo-tenetur”-Grundsatzes, der auch den “Miranda Warning” zugrunde liegt, liegt darin, dass auf das Selbstbelastungsprivileg gültig nur verzichten kann, wer zuvor darüber informiert wurde, dass er Träger dieses Rechts ist und wenn sichergestellt ist, dass er diese Belehrung auch verstanden hat. Das muss umso mehr gelten, wenn die Angaben der beschuldigten Person in irgendeiner Form Eingang in die Strafakte finden, sei es nun als Protokolle, Aktennotizen, Rapporte, Berichte oder in anderer Form. Dabei spielt es auch keine Rolle, wo und bei welcher Gelegenheit die beschuldigte Person diese Angaben macht, sei dies z.B. im Polizeifahrzeug nach der vorläufigen Festnahme, anlässlich der Fahrt zu einem Augenschein oder anlässlich einer Hausdurchsuchung. Die Strafverfolgungsbehörden müssen eine Person als beschuldigte Person nach den Art. 157 ff. StPO einvernehmen und nach Art. 158 Abs. 1 StPO belehren, wenn sich der Tatverdacht gegen sie soweit verdichtet hat, dass sie ernstlich als Tatbeteiligte in Betracht zu ziehen ist. Diese Voraussetzung kann bereits im Frühstadium eines Verfahrens bei den allerersten Abklärungen erfüllt sein, falls eine Person auf Anhieb ernstlich tatverdächtig ist, weil die äusseren Umstände für sich sprechen.
Die Strafverfolgungsbehörden überschreiten daher ihren Beurteilungsspielraum, wenn sie trotz eines konkreten Tatverdachts nicht zu einer förmlichen Beschuldigteneinvernahme der verdächtigten Person mit vorheriger Rechtsbelehrung übergehen. Verfahrensrechtlich liegt in solchen Fällen eine “erste Einvernahme der beschuldigten Person” vor, bei der unter Missachtung der Hinweispflichten nach Art. 158 Abs. 1 StPO gemachte Aussagen nach Abs. 2 unverwertbar sind (E. 2.4.5). Im Fall einer Einvernahme mittels informeller Erfragung des PIN-Codes zur Durchsuchung des Mobiltelefons eines Beschuldigten (und damit bei bereits bestehendem Tatverdacht) — ohne vorgängige Belehrung im Sinne von Art. 158 Abs. 1 StPO — ist demnach gemäss Art. 158 Abs. 2 StPO von deren Unverwertbarkeit auszugehen. Die Erhebung des Entsperrcodes begründet eine unzulässige Aushöhlung des “nemo tenetur”-Grundsatzes. Die Unverwertbarkeit gilt in diesem Rahmen absolut (Art. 141 Abs. 1 StPO; E. 2.5.1).