4A_239/2010: Restriktive Auslegung von Art. 46 LugÜ (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht hat­te sich im Entscheid 4A_239/2010  zur Anwen­dung von Art. 38 LugÜ (Art. 46 revLugÜ, Sistierung) auszus­prechen. Der auf Ital­ienisch ver­fasste Entscheid ist zur Pub­lika­tion in der amtlichen Samm­lung vorgesehen.

Dem Entscheid lag verkürzt fol­gen­der Sachver­halt zugrunde: Ein ital­ienis­ches Gericht hat­te eine im Tessin ansäs­sige Schuld­ner­in zur Zahlung eines Geld­be­trages an die ital­ienis­che Gläu­bigerin verpflichtet. Die Gläu­bigerin war an den Tessin­er Einzel­richter gelangt und hat­te die Anerken­nung und Voll­streck­bar­erk­lärung des ital­ienis­chen Entschei­ds ver­langt. Die Schuld­ner­in hat­te gegen den Exe­quatur-Entscheid einen Rechts­be­helf i.S.v. Art. 37 LugÜ (Art. 43 revLugÜ) ein­gelegt, was sie mit einem ange­blichen Ver­stoss gegen den schweiz­erischen Ordre pub­lic begrün­dete. Zudem hat­te die Schuld­ner­in beantragt, das Rechts­be­helfsver­fahren sei i.S.v. Art. 38 Abs. 1 LugÜ (Art. 46 Abs. 1 revLugÜ) zu sistieren, bis über ein in Ital­ien hängiges ordentlich­es Rechtsmit­tel entsch­ieden sei.

Das Tessin­er Beru­fungs­gericht gewährte die Sistierung mit der Begrün­dung, es sei nach ein­er sum­marischen Prü­fung  nicht erstellt, dass das in Ital­ien hängige Rechtsmit­telver­fahren “völ­lig aus­sicht­s­los” sei.

Das Bun­des­gericht ver­weist zunächst auf einen Entscheid des EuGH aus dem Jahre 1990 (Entscheid vom 1. Juni 1990 C‑183/90 in Sachen B. J. van Dalf­sen, Slg. 1991 I‑4743); dieser hält fest, dass die im Übereinkom­men vorge­se­hene Möglichkeit der Sistierung restrik­tive auszule­gen sei, um nicht die Ziele des Übereinkom­mens zu gefährden, die in der freien Zirku­la­tion der Entschei­dun­gen bestün­den bzw. in der Möglichkeit, die im Urteilsstaat voll­streck­baren Entschei­dun­gen in einem anderen Ver­tragsstaat durchzusetzen.

Gestützt darauf hielt das Bun­des­gericht Fol­gen­des fest (Über­set­zung aus dem Italienischen):

3.3.2. Wie bere­its oben erwäh­nt, berück­sichtigt das Bun­des­gericht im Anwen­dungs­bere­ich des Lugano-Übereinkom­mens die Recht­sprechung zum par­al­le­len Brüs­sel­er-Übereinkom­men bzw. der Verord­nung EG 44/2001, welche dieses erset­zt hat. Vor­liegend beste­ht kein Anlass, von der Recht­sprechung des Gericht­shofes [der Europäis­chen Gemein­schaft, EuGH] abzuwe­ichen. Dieser hat zu Recht fest­ge­hal­ten, dass die ([…] in Art. 46 revLugÜ vorge­se­hene) Möglichkeit, das Ver­fahren zu sistieren, Aus­nah­mecharak­ter haben muss; dies, um in den Mit­glied­staat­en einen raschen Umlauf und eine rasche Durch­set­zung der im Ursprungsstaat voll­streck­baren Entschei­dun­gen zu ermöglichen. […] Im Übri­gen scheint die oben genan­nte Lehre, die sich zur zitierten Recht­sprechung neg­a­tiv äussert, keine prak­tik­able Lösung vorzuse­hen, um zu ver­hin­dern, dass der Richter im Rechts­be­helfsver­fahren gegen die Voll­streck­bar­erk­lärung, würde ihm zuge­s­tanden, Umstände zu berück­sichti­gen, die bere­its dem Gericht im Urteilsstaat unter­bre­it­et wur­den, eine vom Lugano-Übereinkom­men aus­drück­lich aus­geschlossene Über­prü­fung der Entschei­dung in der Sache vorn­immt (vgl. Art. 45 Abs. 2 revLugÜ), indem er die Erfol­gschan­cen eines im Aus­land hängi­gen Rechtsmit­telver­fahrens abschätzt.

Im vor­liegen­den Fall hiess das Bun­des­gericht die von der Gläu­bigerin ein­gere­ichte Beschw­erde gut und verneinte mithin die Begrün­de­theit der von der Beklagten beantragten Sistierung.