9C_69/2011: Nikotinsucht als Krankheit; Aufnahme eines Arzneimittels in die Spezialitätenliste (amtl. Publ.)

Der Phar­makonz­ern Pfiz­er gelangte vor das Bun­des­gericht mit ein­er Beschw­erde gegen die Ablehnung des Gesuchs, das von ihm hergestellte und von Swissmedic als Arzneimit­tel zuge­lassene Prä­parat „Champix“ zur Rauchen­twöh­nung bei Erwach­se­nen in die Spezial­itäten­liste (SL) aufzunehmen (vgl. Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG). Das Bun­de­samt für Gesund­heit (BAG) hat­te die Auf­nahme von Champix in die Spezial­itäten­liste man­gels nachgewiesen­er Wirk­samkeit, Zweck­mäs­sigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leis­tung abgelehnt (vgl. Art. 32 Abs. 1 KVG, Art. 65 Abs. 3 KVV, Art. 30 Abs. 1 lit. a sowie Art. 32 ff. KLV). Das Bun­desver­wal­tungs­gericht hat­te diese Frage offen­ge­lassen und die Nich­tauf­nahme mit der Begrün­dung bestätigt, bei der Nikotin­ab­hängigkeit han­dle es sich nicht um eine selb­ständi­ge Krankheit (vgl. Art. 1a Abs. 2 lit. a KVG) und die medika­men­töse Nikoti­nen­twöh­nung sei nicht in der Pos­i­tivliste der durch die oblig­a­torische Krankenpflegev­er­sicherung zu übernehmenden präven­tiv­en Mass­nah­men aufge­führt (vgl. Art. 26 und 33 Abs. 5 KVG; Art. 33 lit. d KVV i.V.m. Art. 12 ff. KLV und Anhang I).

In dem zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 9C_69/2011 vom 11. Juli 2011 hat das Bun­des­gericht dargelegt, dass die Nikotin­sucht eine Krankheit darstellen kann und ein Medika­ment zur Rauchen­twöh­nung gegebe­nen­falls von den Kassen zu bezahlen ist. Es hat die Beschw­erde teil­weise gut­ge­heis­sen, den ange­focht­e­nen Entscheid aufge­hoben und die Sache an die Vorin­stanz zurück­gewiesen wird, damit diese nach Abklärun­gen im Sinne der Erwä­gun­gen über die Auf­nahme von „Champix“ in die Spezial­itäten­liste neu verfüge.

Das Bun­des­gericht zieht bei der Beurteilung, ob es sich bei der Nikotin­sucht um eine Krankheit han­delt, die Recht­sprechung zur Alko­hol- und Dro­gen­sucht her­an, die als Krankheit anerkan­nt sind (vgl. BGE 101 V 77 E. 1a S. 79):

5.3.2 In BGE 118 V 107 E. 1b S. 109 wurde im Zusam­men­hang mit Dro­genkon­sum Sucht als unbezwing­bares Ver­lan­gen zur fort­ge­set­zten Ein­nahme mit Entziehungser­schei­n­un­gen nach Abset­zen, Ten­denz zur Steigerung der Dosis, Schä­den für Indi­vidu­um und Gesellschaft charak­ter­isiert. Diese Begriff­sum­schrei­bung gilt im Wesentlichen auch heute noch […], und zwar in gle­ich­er Weise für Nikotin­ab­hängigkeit und Abhängigkeit von anderen psy­choak­tiv­en Sub­stanzen wie Dro­gen und Alko­hol […]. […] Eben­falls dif­feren­zieren die anerkan­nten inter­na­tionalen Klas­si­fika­tion­ssys­teme ICD-10 der WHO sowie DSM IV der Amer­i­can Psy­chi­atric Asso­ci­a­tion hin­sichtlich der “Krankheit­seigen­schaft” nicht zwis­chen Nikotin­sucht und Dro­gen- und Alkoholsucht.
5.3.3 Abge­se­hen von den — kranken­ver­sicherungsrechtlich allerd­ings nicht rel­e­van­ten — Auswirkun­gen auf das soziale Ver­hal­ten resp. den Fol­gen für das “Funk­tion­ieren der Gesellschaft”, ist kein Grund ersichtlich, mit Bezug auf den Krankheitswert zwis­chen der Nikotin­sucht ein­er­seits, Alko­hol- und Dro­gen­sucht ander­seits zu unter­schei­den. Daraus ergibt sich indessen nicht, dass Nikotin­ab­hängigkeit als solche eine Krankheit im Sinne der oblig­a­torischen Krankenpflegev­er­sicherung darstellt. Die Sucht muss aus medi­zinis­ch­er Sicht behand­lungs­bedürftig sein, damit ihr Krankheitswert zukommt.

Im Fol­gen­den gibt das Urteil bes­timmte Kri­te­rien vor, nach denen der Krankheitswert ein­er Nikotin­sucht bes­timmt wer­den kann:

5.4.2 […] Es wird Auf­gabe des Bun­de­samtes sein, nach Kon­sul­ta­tion der Eid­genös­sis­chen Kom­mis­sion für all­ge­meine Leis­tun­gen und Grund­satzfra­gen (Art. 37a lit. a KVV) Bedin­gun­gen zu for­mulieren, unter denen die Behand­lungs­bedürftigkeit der Nikotin­sucht und damit deren Krankheitswert zu beja­hen ist. Dabei geht es vor­ab darum, einen Min­dest­grad an Nikotin­ab­hängigkeit festzule­gen […] unter Berück­sich­ti­gung der Expo­si­tions­dauer (pack-years) und der Art des Kon­sums […], welch­er erre­icht wer­den muss, um über­haupt von ein­er Krankheit sprechen zu kön­nen. Nicht jedes Rauchver­hal­ten ist als behand­lungs­bedürftige Sucht zu betra­cht­en. Mit Bezug auf (Begleit-)Erkrankungen sodann kann nicht voraus­ge­set­zt wer­den, dass diese bere­its ein Sta­di­um erre­icht haben, wo auch ein sofor­tiger Rauch­stopp wed­er zu ein­er Verbesserung noch wenig­stens zu ein­er Sta­bil­isierung des Gesund­heit­szu­s­tandes beitra­gen kann. […] Ist die Nikotin­sucht Symp­tom resp. Folge ein­er Erkrankung — in Betra­cht fall­en ins­beson­dere psy­chis­che Lei­den […] — stellt sich im Sinne ein­er den Krankheitswert bes­tim­menden medi­zinis­chen Lim­i­ta­tion (BGE 129 V 32 E. 4.2.2 S. 39) etwa die Frage, ob die betr­e­f­fende Per­son den Willen auf­brin­gen kann, mit dem (über­mäs­si­gen) Tabakkon­sum aufzuhören.

Die Wirk­samkeit des in Frage ste­hen­den Medika­ments wird vom Bun­des­gericht bejaht:

6.1.2.2 […] Im Lebensver­sicherungs­bere­ich gilt eine Per­son, die früher ger­aucht hat, als Nich­trauch­er, sobald sie während 12 Monat­en nicht mehr ger­aucht hat […]. Unter diesen Umstän­den hat der Nach­weis der Wirk­samkeit von Champix grund­sät­zlich als erbracht zu gelten.

Auch die Zweck­mäs­sigkeit des Prä­parats wird hier vom Bun­des­gericht anerkannt: 

6.2.2.3 Auf­grund der Akten […] ist davon auszuge­hen, dass in allen klin­is­chen Stu­di­en zum Nach­weis der Wirk­samkeit (effec­tive­ness) ein­er Raucher­en­twöh­nungs­ther­a­pie die Proban­den der Place­bo-Gruppe die aufge­trete­nen gesund­heitlichen Störun­gen, soweit notwendig, ärztlich behan­deln liessen. Im dargelegten Sinne kann somit auch die Zweck­mäs­sigkeit ein­er Behand­lung mit Champix nicht verneint werden.

Die Wirtschaftlichkeit des Arzneimit­tels wird vom Bun­des­gericht nicht abschliessend geklärt:

6.3.4.2 […] Die Frage der Wirtschaftlichkeit von Champix kann erst dann abschliessend beurteilt wer­den, wenn fest­ste­ht, unter welchen Bedin­gun­gen die Nikotin­sucht Krankheitswert hat, d.h. eine behand­lungs­bedürftige Krankheit im Sinne der sozialen Kranken­ver­sicherung darstellt (vgl. E. 5.4.2), und unter welchen indika­tions- und men­gen­mäs­si­gen Lim­i­tierun­gen eine Auf­nahme dieses Arzneimit­tels in die SL erfol­gen kann (vgl. E. 6.2.2.2 und 6.3.4.1). Die Sache ist zu diesem Zweck und zu anschliessender neuer Ver­fü­gung über das Auf­nah­mege­such an das BAG zurückzuweisen.