2C_484/2010: Strafcharakter von Art. 49a Abs. 1 KG; Vereinbarkeit des Schweizer Kartellverfahrens mit der EMRK (schriftliche Begründung des Urteils vom 29. Juni 2012 i.S. PubliGroupe)

Das Bun­des­gericht hat unlängst die schriftliche Begrün­dung seines Urteils vom 29. Juni 2012 in Sachen Pub­li­Groupe veröf­fentlicht (2C_484/2010). Der Entscheid ist für die amtliche Pub­lika­tion vorgesehen.

Das Bun­des­gericht hat­te sich in seinem Entscheid erst­mals höch­strichter­lich zur Recht­snatur der direk­ten kartell­rechtlichen Sank­tio­nen nach Art. 49a Abs. 1 KG und damit zusam­men­hän­gend zur Vere­in­barkeit des Schweiz­er Kartel­lver­fahrens mit der EMRK zu äussern, genauer zum Anspruch auf eine Beurteilung durch ein unab­hängiges Gericht bei strafrechtlichen Ankla­gen nach Art. 30 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

2.2.2 Gemäss ein­er gefes­tigten, langjähri­gen Recht­sprechung des Europäis­chen Gericht­shofes für Men­schen­rechte (EGMR) han­delt es sich um eine strafrechtliche Anklage, wenn alter­na­tiv entwed­er das nationale Recht eine staatliche Mass­nahme dem Strafrecht zuord­net oder wenn die Natur des Verge­hens oder wenn die Art und Schwere des Verge­hens und/oder der Sank­tio­nen für den strafrechtlichen Charak­ter spricht […]. Die Mass­nahme nach Art. 49a KG zeich­net sich durch den ihr zugeschriebe­nen abschreck­enden sowie vergel­tenden Charak­ter […] und eine die Schwere des Verge­hens bele­gende erhe­bliche Sank­tions­dro­hung aus, die zur Aufer­legung ein­er finanziellen Belas­tung in der Höhe von etlichen Mil­lio­nen Franken führen kann. Unab­hängig davon, dass die Mass­nahme ihre Grund­lage im Kartell- und nicht im (Kern-)Strafrecht find­et, ver­fügt sie daher über einen strafrechtlichen bzw. “strafrecht­sähn­lichen” […] Charak­ter. […] Diese Auf­fas­sung ist auch nun­mehr durch ober­ste “europäis­che” Gerichte
bestätigt wor­den (vgl. Urteil des EGMR i.S. Menar­i­ni Diag­nos­tics S.R.L. c. Ital­ie vom 27. Sep­tem­ber 2011, Nr. 43509/08, Rz. 44; Urteil des EFTA Court i.S. Posten Norge AS v. EFTA Sur­veil­lance Author­i­ty vom 18. April 2012 [E‑15/10], Nr. 84 ff.; Urteil
des EuGH i.S. KME vom 8. Dezem­ber 2011 [Rs. C‑389/10 P], Rz. 118 ff.

Die Ver­fahrens­garantien von Art. 6 und 7 EMRK und Art. 30 bzw. 32 BV seien daher grund­sät­zlich anwend­bar, wobei über ihre Trag­weite bei der Prü­fung der einzel­nen Garantien zu befind­en sei.

Was den Anspruch an eine Beurteilung durch ein unab­häniges Gericht anbe­lange, so erfülle das Ver­fahren vor der Wet­tbe­werb­skom­mis­sion (WEKO) — isoliert betra­chtet — die Anforderun­gen nicht. Als Behör­denkom­mis­sion werde die WEKO von der Recht­sprechung nicht als richter­liche Behörde anerkan­nt. Abge­se­hen davon bestün­den “auch Hin­dernisse in Bezug
auf die Gewal­tenteilung (Ein­sitz von “Chef­beamten” in die WEKO) und die
Unab­hängigkeit (Ein­sitz von Inter­essen­vertretern in die WEKO)” [E 4.3]. Den­noch sei es unter den Vor­gaben der EMRK zuläs­sig, dass die Ver­wal­tung im Ver­wal­tungsver­fahren Sank­tio­nen mit Strafcharak­ter ausspreche. Erforder­lich sei allerd­ings, dass den Anforderun­gen an ein unab­hängiges Gericht im Sinne der EMRK in der Rechtsmit­telin­stanz genüge getan werde.

4.4 Mit Urteil des EGMR i.S. Menar­i­ni Diag­nos­tics S.R.L. c. Ital­ie vom 27. Sep­tem­ber 2011 (Nr. 43509/08, Rz. 57 ff.) hat nun der Europäische
Gericht­shof für Men­schen­rechte […] erst­mals in einem Kartel­lver­fahren (mit hohen
Buss­geldern) fest­ge­hal­ten, dass die Anforderun­gen von Art. 6 EMRK auch erst im Ver­wal­tungs­gerichtsver­fahren erfüllt wer­den kön­nen; insoweit lässt die EMRK
zu, dass die Ver­wal­tung im Ver­wal­tungsver­fahren Sank­tio­nen mit
strafrechtlichem Charak­ter aussprechen kann. Voraus­set­zung für die
Zuläs­sigkeit dieser Sit­u­a­tion bilde aber, dass im nachfolgenden
Gerichtsver­fahren die Vor­gaben von Art. 6 EMRK einge­hal­ten werden.

Das im Sinne von Art. 6 EMRK sowie Art. 30 BV unab­hängige Gericht müsse über die kartell­rechtliche Sank­tion mit voller Kog­ni­tion in Tat- und Rechts­fra­gen entschei­den. Dem ste­he aber nicht ent­ge­gen, dass das über­prüfende Gericht unter gegebe­nen Voraus­set­zun­gen in Bere­ichen des
Sachver­ständi­gen­er­messens seine Kog­ni­tion zurück­nehmen könne.

4.5 […] Ob die Kog­ni­tions­beschränkung den Anforderun­gen von Art. 6 EMRK
genügt, ist anhand des Ver­fahrens­ge­gen­standes (ist professionelles
Wis­sen bzw. Erfahrung notwendig), der Art und Weise, in welch­er der
Ver­wal­tungsentscheid unter Berück­sich­ti­gung der vor Verwaltungsbehörden
zuge­s­tande­nen Ver­fahrens­garantien zus­tande kam und des
Stre­it­ge­gen­standes (gel­tend gemacht­en und tat­säch­lich geprüften Rügen)
zu prüfen (Urteil des EGMR i.S. Sig­ma Radio Tele­vi­sion ltd. c. Zypern
vom 21. Juli 2011, Nr. 32181/04 und 35122/05, Rz. 154; zu diesen
Kri­te­rien Graben­warter, Ver­fahren­garantien, a.a.O., S. 426 ff. mit
Hin­weisen auf ältere Fälle). Mass­gebend ist der Einzelfall und ob sich
das über­prüfende Gericht “point by point” mit den Argu­menten bzw. Rügen
der Beschw­erde­führer auseinan­derge­set­zt hat (vgl. Urteil des EGMR i.S.
Sig­ma Radio Tele­vi­sion ltd. c. Zypern vom 21. Juli 2011, Nr. 32181/04 und 35122/05, Rz. 156). […]. Nicht anders
ver­hält es sich bei ver­wal­tungsrechtlichen Fällen, welche in Bezug auf
gewisse Sank­tio­nen strafrecht­sähn­lich sind; entschei­dend ist, dass die
Voraus­set­zun­gen von Art. 6 EMRK
erfüllt wer­den. Mass­gebend bleibt dem­nach der Einzelfall, die
aufge­lis­teten drei Kri­te­rien und die Abar­beitung der Rügen Punkt für
Punkt. 

Das Bun­des­gericht stellte dies­bezüglich fest, dass sich das Bun­desver­wal­tungs­gericht keine über­mäs­sige bzw. unzuläs­sige Zurück­hal­tung aufer­legt habe. Ins­beson­dere habe es nicht ein­fach ohne weit­ere Prü­fung die Auf­fas­sung der WEKO
über­nom­men, vielmehr sei dies “teil­weise sog­ar recht ausführlich”
dargelegt und begrün­det worden.

Im Weit­eren hielt das Bun­des­gericht fest, dass die kartell­rech­liche Erfas­sung des Miss­brauchs ein­er Mark­t­be­herrschen­den Stel­lung durch Art. 7 Abs. 1 KG i.V.m. Art. 4 Abs. 2 KG dem Grund­satz nul­la poe­na sine lege entspreche, ins­beson­dere den Anforderun­gen des Bes­timmtheits­ge­botes. So gab das Bun­des­gericht etwa mit Ver­weis auf die Ambivalenz des Mark­tver­hal­tens zu bedenken, dass nur
einzelfall­weise eruiert wer­den könne, ob ein Ver­hal­ten diskri­m­inierend sei. Angesichts
vielfältiger Prob­lem­stel­lun­gen und der Kom­plex­ität der zu ordnenden
Sachver­halte müssten deshalb im Wirtschaftsstrafrecht — wie im Kern­strafrecht auch — offene Nor­men ver­wen­det wer­den, wobei die Ausle­gung und Konkretisierung der Nor­men durch Gerichte und Behör­den zuläs­sig sei [E 8.2.1, E 8.2.3 a.A.]. Ins­beson­dere ste­he es dem Erforder­nis der Vorherse­hbarkeit
nicht ent­ge­gen, wenn das betrof­fene Unternehmen “in einem vernünftigen,
den Umstän­den entsprechen­den Masse” rechtlichen Rat ein­holen müsse, um die
möglichen Fol­gen ein­er bes­timmten Ver­hal­tensweise zu ermit­teln. Der Schweiz­er Geset­zge­ber habe dies im Kartellgesetz
institutionalisiert.

8.2.3 […] Beste­ht bei einem Unternehmen Unsicher­heit darüber,
ob ein wet­tbe­werb­s­beschränk­endes Ver­hal­ten unter Art. 7 KG fällt, soll ihm die Möglichkeit offen ste­hen, dieses der Wet­tbe­werb­skom­mis­sion zu melden, bevor es Wirkung ent­fal­tet (vgl. Art. 49a Abs. 3 lit. a KG).
Damit wird sichergestellt, dass die Unternehmen das Risiko einer
Fehlbeurteilung des eige­nen Ver­hal­tens nicht selb­st tra­gen müssen (vgl.
Botschaft KG II, BBl 2002 2039; Rhinow/Gurovits, a.a.O., S. 612; BGE 135 II 60 E. 3.2.1 S. 70).
Mit diesem Instru­ment hat es jede Unternehmung in der Hand, die
materielle Recht­slage im Zweifels­fall abklären zu lassen und damit der
Gefahr ein­er Sank­tion zu ent­ge­hen (vgl. Rhinow/Gurovits, a.a.O., S.
612). Insoweit stellt die Vor­ab­mel­dung ein notwendi­ges Kor­rek­tiv der
Unbes­timmtheit des Norm­textes dar und insoweit ist auch Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b KG hin­re­ichend bes­timmt, um als gesetzliche
Grund­lage für eine Sank­tion­ierung zu dienen […].

Das Bun­des­gericht kam in der Folge zum Schluss, dass das Bun­desver­wal­tungs­gericht den (sach­lich) rel­e­van­ten Markt bun­desrecht­skon­form abge­gren­zt und bezüglich der Mark­t­stel­lung zu Recht auf eine mark­t­be­herrschen­den
Stel­lung im Markt für die Ver­mit­tlung und den
Verkauf von Inser­ate- und Wer­ber­aum in Print­me­di­en
erkan­nt habe [E 8.3.2, E 9]. Das Bun­des­gericht hat in diesem Zusam­men­hang en pas­sant betont, dass bei der Fest­stel­lung ein­er mark­t­be­herrschen­den Stel­lung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 KG ins­beson­dere auf das Vorhan­den­sein zumut­bar­er Auswe­ich­möglichkeit­en abzustellen sei.

9.3.1 Nach Art. 4 Abs. 2 KG
gel­ten als mark­t­be­herrschende Unternehmen einzelne oder mehrere
Unternehmen, die auf einem Markt als Anbi­eter oder Nach­frager in der
Lage sind, sich von anderen Mark­t­teil­nehmern (Mit­be­wer­bern, Anbietern
oder Nach­fragern) in wesentlichem Umfang unab­hängig zu verhalten,
ins­beson­dere wenn diese keine zumut­baren Auswe­ich­möglichkeit­en haben;
entschei­dend ist die Möglichkeit des unab­hängi­gen Ver­hal­tens eines
Unternehmens in einem bes­timmten Markt (vgl. BGE 129 II 497 E. 6.3.1;
Zäch, Ver­hal­tensweisen, a.a.O., S. 172; Zäch, Kartell­recht, a.a.O., S.
281; Ducrey, a.a.O., S. 326; Köchli/Reich, a.a.O., N. 31, 34 ad Art. 4 KG).

Mit der Kartellge­set­zre­vi­sion 2003 habe der Gesetzgeber
zudem verdeut­licht, dass nicht allein auf Mark­t­struk­tur­dat­en abzustellen sei, son­dern auch konkrete Abhängigkeitsver­hält­nisse geprüft wer­den müssten. Unab­hängig von diesen all­ge­meinen Fest­stel­lun­gen war für die konkrete Beurteilung der Mark­st­stel­lung aber in erster Lin­ie der hohe Mark­tan­teil von 63% auss­chlaggebend [E 9.3.3.2].

Im Ergeb­nis stellte das Bun­des­gericht fest, dass sich Pub­li­Groupe als mark­t­be­herrschen­des Unternehmen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b KG unzuläs­sig ver­hal­ten habe, indem sie andere Unternehmen sowohl in der Auf­nahme oder Ausübung des Wet­tbe­werbs behin­dert als auch die Mark­t­ge­gen­seite benachteiligt habe [E 10.5].

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: Urteil­s­text (HTML), NZZ vom 29. Juni 2012 (HTML).