4A_93/2014: Kein Anspruch auf Auskunftserteilung durch den Geschäftsführer gestützt auf Art. 812 OR (amtl. Publ.)

Der im Han­del­sreg­is­ter als Geschäfts­führer einge­tra­gene B. kündigte frist­los aus wichti­gen Grün­den. Seine Arbeit­ge­berin, die A. GmbH, bestritt das Vor­liegen wichtiger Gründe und forderte B. unter anderem auf, ihr alle Kun­den- und Ver­trieb­sin­for­ma­tio­nen, Buch­hal­tung­sun­ter­la­gen, Hard­wareteile, Com­put­er und alle son­sti­gen von ihr über­lasse­nen Gebrauchs­ge­gen­stände auszuhändi­gen. Die A. GmbH reichte Klage ein, worauf B. die Einrede der Unzuständigkeit erhob.

Die Zuständigkeit des Han­dels­gerichts St. Gallen hing ins­beson­dere davon ab, ob sich aus der Sorgfalts- und Treuepflicht des Geschäfts­führers nach Art. 812 Abs. 1 OR eine eigen­ständi­ge, materiell­rechtliche Rechen­schaft­spflicht ableit­en lässt. Das Bun­des­gericht verneinte einen materiell­rechtlichen Anspruch auf Auskun­ft­serteilung des Geschäfts­führers (Urteil 4A_93/2014 vom 4. Juli 2014, E. 3.2–3.2.2):

“3.2. Ein materiell­rechtlich­er Anspruch auf Auskun­ft oder Rechen­schaft kann sich aus Gesetz oder Ver­trag ergeben und kann selb­ständig eingeklagt wer­den […]. Fraglich ist, ob sich aus der all­ge­meinen Treuepflicht nach Art. 812 OR ein solch­er materiell­rechtlich­er Auskun­ft­sanspruch ableit­en lässt. 

3.2.1. Die Vorin­stanz hat die Frage verneint. Die Beschw­erde­führerin geste­ht denn auch zu, dass Art. 812 OR eine Auskun­fts- oder Rechen­schaft­spflicht nicht aus­drück­lich vor­sieht und dass eine solche “bish­er in Lehre und Recht­sprechung, soweit ersichtlich, nicht the­ma­tisiert wor­den ist” […]. Sie macht jedoch gel­tend, die Rechen­schaft­spflicht sei Bestandteil der all­ge­meinen Treuepflicht und werde auch in Bezug auf den Geschäfts­führer ohne Auf­trag, den Wil­lensvoll­streck­er und den amtlichen Erb­schaftsver­wal­ter bejaht, obwohl eine solche Pflicht wed­er in Art. 419 OR noch in Art. 518 bzw. Art. 554 ZGB aus­drück­lich vorge­se­hen sei. 

3.2.2. Die in Art. 812 Abs. 1 und 2 OR vorge­se­hene Treuepflicht der Geschäfts­führer ein­er GmbH schreibt diesen vor, ihre eige­nen Inter­essen und diejeni­gen von ihnen nahe ste­hen­den Per­so­n­en hin­ter die Inter­essen der Gesellschaft zu stellen […].
Ein materiell­rechtlich­er Anspruch auf Auskun­ft­serteilung wurde in der Lehre und der Recht­sprechung aus dieser Norm bish­er nicht abgeleit­et. Ein solch­er ergibt sich wed­er aus dem Wort­laut noch aus den Mate­ri­alien […]. Sys­tem­a­tisch und tele­ol­o­gisch ist zu berück­sichti­gen, dass in den von der Beschw­erde­führerin ange­führten Beispie­len die Rechen­schaft­spflicht jew­eils nicht aus den zitierten Artikeln abgeleit­et, son­dern Auf­tragsrecht (ana­log oder ergänzend) ange­wandt wird […]. Eine analoge Anwen­dung von Art. 400 OR auf das gesellschaft­srechtliche Ver­hält­nis zwis­chen Gesellschaft und Organ ist indessen nicht am Platz. Dieses mag zwar auf­tragsähn­liche Merk­male aufweisen. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass die eigen­ständi­ge auf­tragsrechtliche Rechen­schaft­spflicht nach Art. 400 OR all­ge­mein und ohne Rück­sicht auf die konkreten ver­traglichen Vere­in­barun­gen auf das gesellschaft­srechtliche Ver­hält­nis zwis­chen ein­er Gesellschaft und ihren Orga­nen über­tra­gen wer­den kann. Die gesellschaft­srechtliche Treuepflicht lässt sich insofern nicht zu einem eigentlichen Auf­trag erweit­ern.
Schliesslich ist zu berück­sichti­gen, dass die Vernei­n­ung eines eigen­ständi­gen materiell­rechtlichen Anspruchs gestützt auf das Gesellschaft­srecht nicht bedeutet, dass der Geschäfts­führer ein­er GmbH keine Auskun­ft­spflicht hat, wie die Beschw­erde­führerin offen­bar zu befürcht­en scheint. Den Gesellschaftern muss der Geschäfts­führer als Organ für die Gesellschaft nach Art. 802 Abs. 1 OR Auskun­ft erteilen […]. Dies ist gle­ichzeit­ig ein Indiz dafür, dass der Geset­zge­ber Auskun­ft­spflicht­en aus­drück­lich geregelt hat, wo er Bedarf für solche sah. Hätte er weit­ere gesellschaft­srechtliche Auskun­ft­spflicht­en eines Organs ein­führen wollen, so wäre auch zu bes­tim­men gewe­sen, welchen übri­gen Orga­nen die Auskun­ft geschuldet wäre (Gesellschafter­ver­samm­lung [Art. 804 ff. OR] oder Revi­sion­sstelle [Art. 818 i.V.m. Art. 727 ff. OR]). Auskun­ft­spflicht­en hat der Geschäfts­führer zudem aus dem mit der Gesellschaft in der Regel par­al­lel beste­hen­den Arbeits- oder Auf­tragsver­hält­nis […]. Daraus ergibt sich ins­ge­samt, dass sich aus Art. 812 OR kein materiell­rechtlich­er Anspruch auf Auskun­ft­serteilung des Geschäfts­führers ableit­en lässt.”