4A_301/2016; 4A_311/2016: Haftung nach Rohrleitungsgesetz; Regress (amtl. Publ.)

In einem weg­weisenden Leit­entscheid hat das Bun­des­gericht ver­schiedene Fra­gen bezüglich des Regressver­hält­niss­es zwis­chen der SUVA, IV und AHV ein­er­seits und der Haftpflichtver­sicherung eines Gaswerks ander­er­seits gek­lärt (Urteil 4A_301/2016 und 4A_311/2016 vom 15. Dezem­ber 2016).

Bei einem Arbeit­sun­fall erlitt B. (Geschädigter) Ver­bren­nun­gen, als sich in einem Abwasserkon­trollschacht Gas entzün­dete. Der Geschädigte musste hos­pi­tal­isiert wer­den. Im Ver­laufe der Zeit heil­ten die Brand­ver­let­zun­gen gut ab. Die psy­chis­chen Fol­gen des Unfalls (namentlich ein post­trau­ma­tis­ches Belas­tungssyn­drom) blieben jedoch umstritten.

Die Arbeit­ge­berin des Geschädigten (C. AG) war zusam­men mit ein­er Spezial­fir­ma beauf­tragt, die Kanal­i­sa­tion­sleitun­gen und Schächte in ein­er Haupt­strasse zu sanieren und abzu­dicht­en. Während der Geschädigte in einem Schacht arbeit­ete, entzün­dete sich an ein­er von ihm ger­aucht­en Zigarette im Schacht befind­lich­es Gas, wodurch Oberköprer und Haare des Geschädigten Feuer fin­gen. Dieser kon­nte aus eigen­er Kraft bzw. mit Hil­fe sein­er Arbeit­skol­le­gen aus dem Schacht steigen, wo das Feuer an seinem Kör­p­er gelöscht wer­den kon­nte. Während­dessen kam es zu ein­er Gas­ex­plo­sion oder (je nach Sach­darstel­lung der Parteien) zu ein­er Gasver­puffung, wodurch ent­lang der Kanal­i­sa­tion­sleitung an mehreren Stellen Schacht­deck­el zumin­d­est abge­hoben wurden.

Die SUVA, IV und AHV (Klägerin­nen) richteten nach dem Unfall Leis­tun­gen aus bzw. wer­den solche noch aus­richt­en. Gemäss Sach­darstel­lung der Klägerin­nen stammte das entzün­dete Gas aus ein­er leck­en Gasleitung des Gaswerkes der F. AG, die bei der A. AG (Beklagte) haftpflichtver­sichert ist. Die Klägerin­nen reicht­en Klage gegen die Haftpflichtver­sicherung des Gaswerkes ein und stell­ten sich auf den Stand­punkt, das Gaswerk hafte gestützt auf das Rohrleitungs­ge­setz (RLG).

Das Han­dels­gericht des Kan­tons Zürich hiess die Klage teil­weise gut. Sowohl die Klägerin­nen als auch die Beklagte erhoben Beschw­erde ans Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­er­den teil­weise gut und wies die Sache zur Abnahme weit­er­er Beweise ans Han­dels­gericht zurück.

Das Bun­des­gericht äusserte sich ins­beson­dere und teil­weise grundle­gend zu fol­gen­den Fragen:

1. Zu klären war, ob die AHV und IV Ver­sicherungsträger im Sinne von Art. 72 ATSG sind oder ob sie als blosse Ver­sicherungszweige nicht partei- und prozess­fähige Ein­heit­en darstellen (E. 3.1.1 und 3.3). Das Bun­des­gericht anerkan­nte die Parteifähigkeit der AHV und IV (E. 3.3.2 i.f.). Der Geset­zge­ber habe mit dem Begriff “Ver­sicherungsträger” keine Änderung der bish­eri­gen Regelung her­beiführen wollen (E. 3.3.2).

2. Die Klägerin­nen macht­en gel­tend, sie seien gemäss Art. 16 ATSV Gesamt­gläu­bigerin­nen und stell­ten ein gemein­sames Rechts­begehren (E. 4.1). Die Beklagte stellte sich demge­genüber auf den Stand­punkt, die Klägerin­nen müssten die geforderten Leis­tun­gen in ver­schiedene Rechts­begehren aufteilen (E. 4.2). Das Bun­des­gericht erkan­nte, dass kein Gesamthandsver­hält­nis beste­ht und daher die Regress­gr­läu­bigerin­nen nicht gezwun­gen sind, eine ihnen zuste­hende Forderung gemein­sam einzuk­la­gen (E. 4.2.2). Da die Aufteilung des Regress­sub­strats nicht im Ver­hält­nis zum Schuld­ner, son­dern unter den Regress­gläu­bigern selb­st im Rah­men des Aus­gle­ichs zu erfol­gen habe, durften die Klägerin­nen den Gesamt­be­trag ein­kla­gen, ohne die Leis­tun­gen in ver­schiedene Rechts­begehren aufzuteilen (E. 4.2.2).

3. Weit­er bestritt die Beklagte in einem bes­timmten Umfang den Regres­sanspruch der Klägerin­nen (E. 5, 5.1 und 5.2). Nach Auf­fas­sung der Beklagten kon­nten die Klägerin­nen nicht in Ansprüche der beru­flichen Vor­sorgeein­rich­tung ein­treten. Die von der Beklagten gerügte Auf­fas­sung der Vorin­stanz führe dazu, dass bei der beru­flichen Vor­sorgeein­rich­tung der sub­ro­gierte Anspruch weggenom­men und einem Träger der 1. Säule zugeteilt werde. Das Bun­des­gericht ver­warf diese Argu­men­ta­tion sowohl unter der Recht­slage vor dem 1. Jan­u­ar 2005 wie auch nach der neuen Recht­slage. Gemäss Bun­des­gericht machte die Beklagte gel­tend, dass der Anteil am Regresss­chaden, der die Finanzierungslücke bei der BVG-Rente betraf, nicht Teil des Regress­sub­strats bildet, auf das alle am Rück­griff beteiligten Sozialver­sicher­er zufolge Sub­ro­ga­tion greifen kön­nten. Diese Auf­fas­sung, wonach blosse Teilansprüche beste­hen wür­den, ver­warf das Bun­des­gericht. Der Geset­zge­ber habe eine Sub­ro­ga­tion in den ganzen Schaden des Geschädigten ange­ord­net (zum Ganzen E. 5.2).

4.a) Zu prüfen war weit­er, ob das Gaswerk gestützt auf das RLG dem Geschädigten haftete. Sofern eine Haf­tung gegeben war, kon­nten die SUVA, AHV und IV grund­sät­zlich bis zur Höhe ihrer geset­zlichen Leis­tun­gen direkt gegen die Haftpflichtver­sicherung regressieren (E. 6). Zu prüfen war ins­beson­dere, inwiefern das Regresspriv­i­leg für den Arbeit­ge­ber nach Art. 75 Abs. 2 ATSG zu beacht­en war. Nach dieser Bes­tim­mung ste­ht dem Ver­sicherungsträger ein Rück­griff­s­recht aus Beruf­sun­fall gegen den Arbeit­ge­ber nur zu, wenn der Arbeit­ge­ber den Unfall absichtlich oder grob­fahrläs­sig her­beige­führt hat (E. 6.1).

4.b) Das Bun­des­gericht berück­sichtigte das Regresspriv­i­leg bei der Bemes­sung des Regres­sanspruchs des Sozialver­sicher­ers (E. 6.1.3.5 i.f.). Dog­ma­tisch lasse sich das Regresspriv­i­leg des Mitverur­sach­ers als Reduk­tion­s­grund für die Haf­tung des nicht priv­i­legierten Haftpflichti­gen ver­ste­hen. Der Sozialver­sicher­er müsse sich den Vorteil anrech­nen lassen, der seinen ver­sicherten Arbeit­ge­bern zuge­s­tanden werde (E. 6.1.3.4). Die Abschaf­fung des Haf­tung­spriv­i­legs und Beibehal­tung des Regresspriv­i­legs haben gemäss Bun­des­gericht dazu geführt, dass der Geschädigte zwar eine Forderung gegen den Arbeit­ge­ber habe. Soweit diese Forderung auf die Sozialver­sicher­er zufolge Sub­ro­ga­tion überge­hen wür­den, habe der Sozialver­sicher­er sein­er­seits im Rah­men des Arbeit­ge­ber­priv­i­legs aber keine durch­set­zbare Forderung mehr (E. 6.1.3.4 i.f.). Prozes­su­al könne der Sozialver­sicher­er zunächst den ungekürzten Anspruch behaupten. Der in Anspruch genommene Haftpflichtige habe her­nach darzule­gen, in welchem Aus­mass sein Anteil wegen des Arbeit­ge­ber­priv­i­legs zu reduzieren sei (zum Ganzen E. 6.2, 6.2.1 und 6.2.2).

5. Zwis­chen den Parteien waren die psy­chis­chen Fol­gen des Unfalls umstrit­ten, namentlich ob ein post­trau­ma­tis­ches Belas­tungssyn­drom (PTBS) vor­lag, das zu ein­er anhal­tenden und voll­ständi­gen Arbeit­sun­fähigkeit geführt hat­te (E. 8). Das Han­dels­gericht Zürich stellte mass­ge­blich auf ein medi­zinis­ches Fremdgutacht­en ab. Dies­bezüglich stellte das Bun­des­gericht unter anderem fest, dass das Han­dels­gericht Zürich unzuläs­siger­weise davon aus­ging, die Beklagte habe die Beschw­er­den des Geschädigten nicht bestrit­ten (E. 8.2.1 und 8.2.2). Akten­widrig war die Fes­tel­lung des Han­dels­gerichts Zürich, die Beklagte habe ihren Antrag auf ein Gutacht­en auf eine bes­timmte Fest­stel­lung beschränkt (E. 8.2.3). Weit­er masste sich das Han­dels­gericht Zürich medi­zinis­che Fachkom­pe­tenz an, indem sie bei der Würdi­gung des medi­zinis­chen Gutacht­ens auss­er Acht liess, dass der Gutachter von einem falschen Sachver­halt aus­ging und dafür sel­ber eine medi­zinis­che Ein­schätzung vor­nahm (E. 8.3.3.1 und 8.3.3.2). Das Bun­des­gericht wies die Sache zur Abnahme weit­er­er Beweise an das Han­dels­gericht Zürich zurück (E. 8.3.3.5).

6. Betr­e­f­fend die Beschw­erde der Klägerin­nen hat­te das Bun­des­gericht unter anderem zu beurteilen, ob die Kosten im Sinne von Art. 55 ZPO genü­gend sub­stanzi­iert waren (E. 12.3.1). Dies­bezüglich stellte das Bun­des­gericht fest, für die Höhe der Ansprüche im Regressver­hält­nis komme einem Ver­fahren zwis­chen der ver­sicherten Per­son und der Sozialver­sicherung, an dem die haftpflichtige Beklagte nicht teilgenom­men habe, keine Bindungswirkung zu (E. 12.3.2 i.f.).