2C_499/2015: Koalitionsfreiheit; Recht auf Zugang der Gewerkschaften zu Verwaltungsgebäuden (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht äusserte sich in einem ital­ienis­chen Leit­entscheid über die Zuläs­sigkeit staatlich­er Regelun­gen zur Ein­schränkung gew­erkschaftlich­er Tätigkeit­en in Ver­wal­tungs­ge­bäu­den (Urteil 2C_499/2015 vom 6. Sep­tem­ber 2017).

Der Staat­srat des Kan­tons Tessin (Con­siglio di Sta­to del Can­tone Tici­no) beschloss einen Erlass, wonach der Zugang zu kan­tonalen Ver­wal­tungs­ge­bäu­den für gew­erkschaftliche Aktiv­itäten grund­sät­zlich unter­sagt wurde. Für gew­erkschaftliche Zusam­menkün­fte bestand aber die Möglichkeit, eine Erlaub­nis zur Nutzung eines Ver­samm­lungsraumes einzu­holen, sofern die Zusam­menkun­ft ausser­halb der nor­malen Arbeit­szeit stat­tfand und das Tre­f­fen arbeit­srechtliche Fra­gen zum Gegen­stand hat­te, welche zwis­chen Gew­erkschaftsvertretern und dem betrof­fe­nen Staatsper­son­al disku­tiert wer­den soll­ten. Das Anbrin­gen von Plakat­en und Verteilen von Broschüren, Zeitschriften u. dgl. wäre eingeschränkt möglich gewe­sen (E. 6.4 und Sachver­halt A.).

Die Gew­erkschaft SSP/VPOD (Sin­da­ca­to svizze­ro dei servizi pub­bli­ci; Ver­band des Per­son­als öffentlich­er Dien­ste; nach­fol­gend VPOD) focht den Erlass vor dem Ver­wal­tungs­gericht des Kan­tons Tessin an (Tri­bunale can­tonale ammin­is­tra­ti­vo). Dieses wies das Rechtsmit­tel des VPOD ab. Das Bun­des­gericht hiess die dage­gen erhobene Beschw­erde gut und hob das Urteil des Ver­wal­tungs­gerichts sowie den ange­focht­e­nen Erlass nach öffentlich­er Beratung auf.

Das Bun­des­gericht gelangte zur Überzeu­gung, dass der ange­focht­ene Erlass den Grund­satz der Ver­hält­nis­mäs­sigkeit ver­let­zte und daher über­mäs­sig in die Koali­tions­frei­heit ein­griff (E. 6.4.3). Das höch­ste Gericht hob her­vor, dass die Kan­tone auch weit­er­hin den Zugang zu öffentlichen Gebäu­den regeln kön­nen, regte jedoch vorgängige Eini­gungsver­suche zwis­chen den betrof­fe­nen Gew­erkschaften und den Gemein­we­sen an (E. 6.4.3).

Das Bun­des­gericht erwog im Wesentlichen, dass das Recht der Gew­erkschaften auf Zugang zu Ver­wal­tungs­ge­bäu­den zur Koali­tions­frei­heit gehört (E. 4 und 5.4). Der Staat hat nicht nur die Exis­tenz von Gew­erkschaften zu ermöglichen, son­dern auch dafür zu sor­gen, dass die Gew­erkschaften über genü­gend Autonomie ver­fü­gen, um effek­tiv tätig wer­den zu kön­nen. Dazu gehört ins­beson­dere, dass den Gew­erkschaften die Möglichkeit eingeräumt wird, einen ständi­gen Kon­takt mit ihren Mit­gliedern zu pfle­gen und darüber hin­aus neue Mit­glieder anzuwer­ben. Nur so könne eine Gew­erkschaft genü­gend repräsen­ta­tiv wer­den und bleiben, um als tar­if­fähiger Sozial­part­ner im Bere­ich des öffentlichen Dien­stes gel­ten zu kön­nen (E. 5.3.2).

Aus­drück­lich offen liess das Bun­degericht die Frage, ob den Gew­erkschaften auch ein Recht auf Zugang an den Arbeit­sort zuste­ht, wenn nicht der Staat, son­dern Pri­vate als Arbeit­ge­ber bzw. Eigen­tümer eines Gebäudes auftreten (E. 5.3).