Das Bundesgericht klärte in diesem Urteil die bislang offene Frage, dass eine Widerklägerin nicht gestützt auf die der Hauptklägerin ausgestellten Klagebewilligung unabhängig von der Hauptklägerin ans Gericht gelangen könne. Vielmehr werde die Klagebewilligung hinfällig, wenn die Hauptklägerin die Frist zur Klageeinreichung unbenutzt verstreichen lasse.
Hintergrund war ein Verfahren vor der Schlichtungsbehörde, in welchem die Beklagte eine Widerklage erhob. Nachdem die Klägerin ihre Klage nicht prosequierte, erhob die Beklagte/Widerklägerin gestützt auf die der Klägerin/Widerbeklagten erteilten Klagebewilligung Klage beim Bezirksgericht.
Das Bundesgericht verwies zunächst auf die in der Lehre vertretenen unterschiedlichen Auffassungen hin: Während einige Autoren davon ausgehen, die Schlichtungsbehörde müsse auch dem Widerkläger eine Klagebewilligung ausstellen bzw. dieser müsse auch dann (gestützt auf die dem Hauptkläger ausgestellte Klagebewilligung) an das Gericht gelangen können, wenn der Hauptkläger die Frist für die Klageeinleitung unbenutzt verstreichen lasse (E. 2.1.1), argumentiert ein anderer Teil, dem Widerkläger werde keine separate Klagebewilligung ausgestellt, weil seine Klage abhängig sei von jener des Hauptklägers. Erhebe der Hauptkläger keine Klage beim Gericht, entfalle auch die Rechtshängigkeit der bereits im Schlichtungsverfahren erhobenen Widerklage. Es stehe dem Beklagten jedoch frei, anstelle einer Widerklage eine eigenständige Klage mittels Schlichtungsgesuch anzuheben (E. 2.1.2). Sodann verwies das Bundesgericht auf die unterschiedliche kantonale Praxis hin (E. 2.1.3).
Die folgende Auslegung von Art. 209 Abs. 1 lit. b ZPO des Bundesgerichts (E. 2) lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Der Wortlaut spreche für die Auffassung, dass der Widerkläger die Klage nicht unabhängig des Hauptklägers prosequieren könne. Die Bestimmung nenne den Widerkläger nicht als Adressaten der Klagebewilligung, sondern die “klagende Partei” bzw. — deutlicher noch in der französischen und italienischen Fassung — den “demandeur” bzw. den “attore”. Auch in der Botschaft sei nur davon die Rede, dass der “klagenden Partei” die Klagebewilligung erteilt werde, welche die klagende Partei ermächtige, nun an das urteilende Gericht zu gelangen. Die Formulierung “klagende Partei” umfasse nicht auch die Widerklägerin. Auch die zwingend vorgeschriebene Erwähnung der Widerklage in der Klagebewilligung besagte nichts Gegenteiliges. Jedenfalls im Zeitpunkt der Ausstellung der Klagebewilligung anlässlich der Schlichtungsverhandlung oder kurz danach existiere sowohl eine “klagende Partei” als auch eine “widerklagende Partei”, und es sei nicht ersichtlich, wie diese sich unterscheidenden Parteien unter den gleichen Begriff subsumiert werden könnten (E. 2.2.1).
Sodann könne, so das Bundesgericht, aus der unbestrittenermassen geltenden Selbständigkeit der Wiederklage nichts per se abgeleitet werden. Vielmehr ergebe sich die Tragweite der Selbständigkeit aus dem systematischen Bezug zu anderen Bestimmungen. Die Autoren der erstgenannten Auffassung beziehen sich auf Art. 14 Abs. 2 ZPO. Deren Schlussfolgerung, wonach dieser Grundsatz auch gelten müsse, wenn die Widerklage im Schlichtungsverfahren erhoben werde und die klagende Partei die Klage nicht prosequiere, sei nur folgerichtig, wenn die Widerklage bereits mit ihrer Anmeldung im Schlichtungsverfahren eine selbständige Klage sei, welche gestützt auf die Klagebewilligung auch unabhängig von der Hauptklage beim Gericht anhängig gemacht werden könne. Daraus ergebe sich jedoch nicht zwingend ein systematisches Argument gegen die grammatikalische Auslegung. Von dieser Auslegung ausgehend setze Art. 14 Abs. 2 ZPO voraus, dass die Hauptklage vor Gericht tatsächlich mittels Einreichung der Klagebewilligung durch den Hauptkläger anhängig gemacht worden sei. Die Auslegung von Art. 209 Abs. 1 lit. b ZPO könne nicht unabhängig davon erfolgen, von welchem Verständnis des Widerklagegerichtsstands auszugehen sei (E. 2.2.2.1). Art. 14 Abs. 2 ZPO beziehe sich, so das Bundesgericht weiter, auf den Fall, dass die “Hauptklage aus irgendeinem Grund dahinfällt”, ohne dass gesagt werde, ob dies nur Fälle betreffe, in denen sie nach Klageeinleitung beim Gericht dahinfalle oder auch, wenn es gar nie zur Klageeinleitung komme. Die Literatur nenne als Anwendungsfälle übereinstimmend namentlich Vergleich, Klageanerkennung, Klagerückzug (Art. 241 ZPO) oder Gegenstandslosigkeit aus anderen Gründen. Mit “Wegfall der Hauptklage” sei ein Wegfall durch Sachurteil, Urteilssurrogat oder Prozessurteil gemeint, was jedoch eine Klageeinreichung beim Gericht voraussetze. Von einer selbständigen Klage im Rahmen eines anderen Prozesses könne aber nicht gesprochen werden, wenn die Hauptklage gar nie beim Gericht eingereicht worden sei (E. 2.2.2.2). Schliesslich ergebe sich auch aus einer verfassungskonformen Auslegung von Art. 14 Abs. 2 ZPO, dass mit dem Wegfall der Hauptklage nicht das Nichteinreichen der Klagebewilligung durch den Hauptkläger gemeint sein könne. Da die Klage im Normalfall am Wohnsitzgerichtsstand des Beklagten (Art. 10 ZPO) zu erheben sei, habe Art. 14 ZPO zur Folge, dass der Hauptkläger in seiner Rolle als Widerbeklagter seinen Wohnsitzgerichtsstand verliere. Die teleologische Begründung für diese Ausnahme vom Gerichtsstand am Wohnsitz des Beklagten ergebe sich aus der erforderlichen Konnexität zwischen Klage und Widerklage; die gerichtliche Beurteilung der Klage fördere in tatsächlicher Hinsicht auch diejenige der Widerklage. Die Bestimmung sei daher im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung im Sinne des Erhalts des Wohnsitzgerichtsstands auszulegen. Das Verständnis einer selbständigen Widerklage auch im Falle unterlassener Prosequierung der Hauptklage würde nun aber bewirken, dass der Widerkläger mit der dem Hauptkläger ausgestellten Klagebewilligung seines eigenen Wohnsitzgerichtsstands klagen könne. Damit würde dem Widerbeklagten — der mangels Prosequierung der Hauptklage nunmehr nur noch Beklagter sei — als Folge einer ausdehnenden Auslegung von Art. 209 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 ZPO der Wohnsitzgerichtsstand entzogen. Eine verfassungskonforme Auslegung führe somit dazu, dass dem Kläger, der auf Klageeinleitung verzichte, der Wohnsitzgerichtsstand erhalten bleiben müsse, wenn der Widerkläger nun seinerseits in einer vollständig unabhängigen Klage gegen ihn vorgehen wolle (E. 2.2.2.3).