4A_437/2021: Keine selbständige Widerklage gestützt auf Klagebewilligung des Hauptklägers (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht klärte in diesem Urteil die bis­lang offene Frage, dass eine Widerk­lägerin nicht gestützt auf die der Haup­tk­lägerin aus­gestell­ten Klage­be­wil­li­gung unab­hängig von der Haup­tk­lägerin ans Gericht gelan­gen könne. Vielmehr werde die Klage­be­wil­li­gung hin­fäl­lig, wenn die Haup­tk­lägerin die Frist zur Klageein­re­ichung unbe­nutzt ver­stre­ichen lasse.

Hin­ter­grund war ein Ver­fahren vor der Schlich­tungs­be­hörde, in welchem die Beklagte eine Widerk­lage erhob. Nach­dem die Klägerin ihre Klage nicht pros­e­quierte, erhob die Beklagte/Widerklägerin gestützt auf die der Klägerin/Widerbeklagten erteil­ten Klage­be­wil­li­gung Klage beim Bezirksgericht.

Das Bun­des­gericht ver­wies zunächst auf die in der Lehre vertrete­nen unter­schiedlichen Auf­fas­sun­gen hin: Während einige Autoren davon aus­ge­hen, die Schlich­tungs­be­hörde müsse auch dem Widerk­läger eine Klage­be­wil­li­gung ausstellen bzw. dieser müsse auch dann (gestützt auf die dem Haup­tk­läger aus­gestellte Klage­be­wil­li­gung) an das Gericht gelan­gen kön­nen, wenn der Haup­tk­läger die Frist für die Klageein­leitung unbe­nutzt ver­stre­ichen lasse (E. 2.1.1), argu­men­tiert ein ander­er Teil, dem Widerk­läger werde keine sep­a­rate Klage­be­wil­li­gung aus­gestellt, weil seine Klage abhängig sei von jen­er des Haup­tk­lägers. Erhebe der Haup­tk­läger keine Klage beim Gericht, ent­falle auch die Recht­shängigkeit der bere­its im Schlich­tungsver­fahren erhobe­nen Widerk­lage. Es ste­he dem Beklagten jedoch frei, anstelle ein­er Widerk­lage eine eigen­ständi­ge Klage mit­tels Schlich­tungs­ge­such anzuheben (E. 2.1.2). Sodann ver­wies das Bun­des­gericht auf die unter­schiedliche kan­tonale Prax­is hin (E. 2.1.3).

Die fol­gende Ausle­gung von Art. 209 Abs. 1 lit. b ZPO des Bun­des­gerichts (E. 2) lässt sich wie fol­gt zusammenfassen:

Der Wort­laut spreche für die Auf­fas­sung, dass der Widerk­läger die Klage nicht unab­hängig des Haup­tk­lägers pros­e­quieren könne. Die Bes­tim­mung nenne den Widerk­läger nicht als Adres­sat­en der Klage­be­wil­li­gung, son­dern die “kla­gende Partei” bzw. — deut­lich­er noch in der franzö­sis­chen und ital­ienis­chen Fas­sung — den “deman­deur” bzw. den “attore”. Auch in der Botschaft sei nur davon die Rede, dass der “kla­gen­den Partei” die Klage­be­wil­li­gung erteilt werde, welche die kla­gende Partei ermächtige, nun an das urteilende Gericht zu gelan­gen. Die For­mulierung “kla­gende Partei” umfasse nicht auch die Widerk­lägerin. Auch die zwin­gend vorgeschriebene Erwäh­nung der Widerk­lage in der Klage­be­wil­li­gung besagte nichts Gegen­teiliges. Jeden­falls im Zeit­punkt der Ausstel­lung der Klage­be­wil­li­gung anlässlich der Schlich­tungsver­hand­lung oder kurz danach existiere sowohl eine “kla­gende Partei” als auch eine “widerk­la­gende Partei”, und es sei nicht ersichtlich, wie diese sich unter­schei­den­den Parteien unter den gle­ichen Begriff sub­sum­iert wer­den kön­nten (E. 2.2.1).

Sodann könne, so das Bun­des­gericht, aus der unbe­strit­ten­er­massen gel­tenden Selb­ständigkeit der Wiederk­lage nichts per se abgeleit­et wer­den. Vielmehr ergebe sich die Trag­weite der Selb­ständigkeit aus dem sys­tem­a­tis­chen Bezug zu anderen Bes­tim­mungen. Die Autoren der erst­ge­nan­nten Auf­fas­sung beziehen sich auf Art. 14 Abs. 2 ZPO. Deren Schlussfol­gerung, wonach dieser Grund­satz auch gel­ten müsse, wenn die Widerk­lage im Schlich­tungsver­fahren erhoben werde und die kla­gende Partei die Klage nicht pros­e­quiere, sei nur fol­gerichtig, wenn die Widerk­lage bere­its mit ihrer Anmel­dung im Schlich­tungsver­fahren eine selb­ständi­ge Klage sei, welche gestützt auf die Klage­be­wil­li­gung auch unab­hängig von der Haup­tk­lage beim Gericht anhängig gemacht wer­den könne. Daraus ergebe sich jedoch nicht zwin­gend ein sys­tem­a­tis­ches Argu­ment gegen die gram­matikalis­che Ausle­gung. Von dieser Ausle­gung aus­ge­hend set­ze Art. 14 Abs. 2 ZPO voraus, dass die Haup­tk­lage vor Gericht tat­säch­lich mit­tels Ein­re­ichung der Klage­be­wil­li­gung durch den Haup­tk­läger anhängig gemacht wor­den sei. Die Ausle­gung von Art. 209 Abs. 1 lit. b ZPO könne nicht unab­hängig davon erfol­gen, von welchem Ver­ständ­nis des Widerk­lagegerichts­stands auszuge­hen sei (E. 2.2.2.1). Art. 14 Abs. 2 ZPO beziehe sich, so das Bun­des­gericht weit­er, auf den Fall, dass die “Haup­tk­lage aus irgen­deinem Grund dahin­fällt”, ohne dass gesagt werde, ob dies nur Fälle betr­e­ffe, in denen sie nach Klageein­leitung beim Gericht dahin­falle oder auch, wenn es gar nie zur Klageein­leitung komme. Die Lit­er­atur nenne als Anwen­dungs­fälle übere­in­stim­mend namentlich Ver­gle­ich, Klagean­erken­nung, Klagerück­zug (Art. 241 ZPO) oder Gegen­stand­slosigkeit aus anderen Grün­den. Mit “Weg­fall der Haup­tk­lage” sei ein Weg­fall durch Sachurteil, Urteilssur­ro­gat oder Prozes­surteil gemeint, was jedoch eine Klageein­re­ichung beim Gericht voraus­set­ze. Von ein­er selb­ständi­gen Klage im Rah­men eines anderen Prozess­es könne aber nicht gesprochen wer­den, wenn die Haup­tk­lage gar nie beim Gericht ein­gere­icht wor­den sei (E. 2.2.2.2). Schliesslich ergebe sich auch aus ein­er ver­fas­sungskon­for­men Ausle­gung von Art. 14 Abs. 2 ZPO, dass mit dem Weg­fall der Haup­tk­lage nicht das Nichtein­re­ichen der Klage­be­wil­li­gung durch den Haup­tk­läger gemeint sein könne. Da die Klage im Nor­mal­fall am Wohn­sitzgerichts­stand des Beklagten (Art. 10 ZPO) zu erheben sei, habe Art. 14 ZPO zur Folge, dass der Haup­tk­läger in sein­er Rolle als Wider­beklagter seinen Wohn­sitzgerichts­stand ver­liere. Die tele­ol­o­gis­che Begrün­dung für diese Aus­nahme vom Gerichts­stand am Wohn­sitz des Beklagten ergebe sich aus der erforder­lichen Kon­nex­ität zwis­chen Klage und Widerk­lage; die gerichtliche Beurteilung der Klage fördere in tat­säch­lich­er Hin­sicht auch diejenige der Widerk­lage. Die Bes­tim­mung sei daher im Rah­men ein­er ver­fas­sungskon­for­men Ausle­gung im Sinne des Erhalts des Wohn­sitzgerichts­stands auszule­gen. Das Ver­ständ­nis ein­er selb­ständi­gen Widerk­lage auch im Falle unter­lassen­er Pros­e­quierung der Haup­tk­lage würde nun aber bewirken, dass der Widerk­läger mit der dem Haup­tk­läger aus­gestell­ten Klage­be­wil­li­gung seines eige­nen Wohn­sitzgerichts­stands kla­gen könne. Damit würde dem Wider­beklagten — der man­gels Pros­e­quierung der Haup­tk­lage nun­mehr nur noch Beklagter sei — als Folge ein­er aus­dehnen­den Ausle­gung von Art. 209 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 ZPO der Wohn­sitzgerichts­stand ent­zo­gen. Eine ver­fas­sungskon­forme Ausle­gung führe somit dazu, dass dem Kläger, der auf Klageein­leitung verzichte, der Wohn­sitzgerichts­stand erhal­ten bleiben müsse, wenn der Widerk­läger nun sein­er­seits in ein­er voll­ständig unab­hängi­gen Klage gegen ihn vorge­hen wolle (E. 2.2.2.3).