BGE 151 III 217: Wahrung der erbrechtlichen Verwirkungsfristen bei nachträglichem Verzicht auf das Schlichtungsverfahren

In BGE 151 III 217 stellte das Bun­des­gericht klar, dass die Kläger­schaft die ein­jährige Ver­wirkungs­frist für erbrechtliche Kla­gen (Art. 533 Abs. 1 ZGB) unter Beru­fung auf Art. 63 ZPO wahren kann — auch wenn die Parteien nach Ein­re­ichung des Schlich­tungs­ge­suchs gemein­sam auf das Schlich­tungsver­fahren verzicht­en und das Schlich­tungs­ge­such zurückziehen (Art. 199 Abs. 1 ZPO).

Der gemein­same Verzicht der Parteien auf die Durch­führung eines Schlich­tungsver­fahrens bewirkt die (funk­tionelle) Unzuständigkeit der angerufe­nen Schlich­tungs­be­hörde, weshalb Art. 63 Abs. 1 ZPO zur Anwen­dung gelangt. Der Umstand, dass die Unzuständigkeit der Schlich­tungs­be­hörde einzig auf­grund der nachträglichen Verzicht­serk­lärung der Parteien ein­tritt und somit nicht bere­its von vorn­here­in beste­ht, darf der Anwen­dung von Art. 63 ZPO nicht im Wege ste­hen (E. 5.2.3.).

Die Kläger­schaft kon­nte die mit der Ein­re­ichung des Schlich­tungs­ge­suchs bewirk­te Recht­shängigkeit aufrechter­hal­ten, indem sie dieselbe Eingabe inner­halb eines Monats seit dem Rück­zug beim zuständi­gen Gericht ein­re­ichte (Art. 63 ZPO).

Sachver­halt

Vor­liegend erhob die Kläger­schaft mit Eingabe vom 10. Dezem­ber 2019 eine Anfech­tungsklage nach Art. 494 Abs. 3 ZGB. Sie stellte sich auf den Stand­punkt, dass diverse jün­gere let­ztwillige Ver­fü­gun­gen des Erblassers mit einem zuvor geschlosse­nen Erb­ver­trag unvere­in­bar seien. Die jün­geren Tes­ta­mente desig­nierten C. als Alleinerbin, was der im Erb­ver­trag ver­fügten Erbein­set­zung der Kläger A. und B. widersprach.

Nach­dem die Schlich­tungsver­hand­lung aus diversen Grün­den mehrmals ver­schoben wurde, informierten die Parteien die Schlich­tungs­be­hörde über ihren gemein­samen Verzicht auf die Durch­führung ein­er Schlich­tungsver­hand­lung. Die Kläger zogen das Schlich­tungs­ge­such mit Schreiben vom 23. März 2021 zurück, woraufhin die Schlich­tungs­be­hörde das Ver­fahren am 24. März 2021 als gegen­stand­s­los abschrieb. Die Parteien erhoben kein Rechtsmit­tel gegen den Abschreibungsbeschluss.

Mit Eingabe vom 21. April 2021 gelangten die Kläger an das erstin­stan­zliche Gericht und reicht­en eine Kopie des ursprünglichen Schlich­tungs­ge­suchs ein. Sie beantragten die Fest­stel­lung, dass die Klage rechts­gültig ein­gere­icht wor­den und entsprechend seit dem 10. Dezem­ber 2019 recht­shängig sei. Da sich das Orig­i­nal des Schlich­tungs­ge­suchs vom 10. Dezem­ber 2019 noch bei der Schlich­tungs­be­hörde befand, ersucht­en sie um Beizug der Akten des Schlichtungsverfahrens.

Das erstin­stan­zliche Gericht wies die klägerischen Anträge ab. Aus BGE 151 III 217 lässt sich die detail­lierte Argu­men­ta­tion der ersten Instanz nicht ent­nehmen. Immer­hin stellte das BGer fest, dass aus dem erstin­stan­zlichen Entscheid her­vorge­he, dass die Kläger die Monats­frist nach Art. 63 ZPO gewahrt hät­ten, indem sie dieselbe Eingabe beim erstin­stan­zlichen Gericht ein­gere­icht hat­ten (vgl. E. 5.3). Den­noch wies die Rechtsmit­telin­stanz die Beru­fung der Kläger ab und stellte fest, dass die ein­jährige Ver­wirkungs­frist (Art. 494 Abs. 3 ZGB i.V.m. Art. 533 Abs. 1 ZGB) abge­laufen sei. Die Recht­shängigkeit sei mit dem Abschrei­bungs­beschluss der Schlich­tungs­be­hörde vom 24. März 2021 dahinge­fall­en (Arrêt de la Cour de Jus­tice du Can­ton de Genève vom 28. Mai 2024, ACJC/6688/2024, E. 5.).

Das BGer hiess die Beschw­erde gut und wies die Sache zur Durch­führung des weit­eren Ver­fahrens an das erstin­stan­zliche Gericht zurück.

Erwä­gun­gen

Zum gemein­samen Verzicht auf das Schlichtungsverfahren

Das BGer erwog, dass der gemein­same Verzicht der Parteien auf das Schlich­tungsver­fahren auch bei erbrechtlichen Stre­it­igkeit­en mit einem Stre­itwert über CHF 100’000.00 möglich sei (Art. 199 Abs. 1 ZPO). Wenn die Parteien erst nach Ein­re­ichung des Schlich­tungs­ge­suchs auf die Schlich­tungsver­hand­lung verzicht­en möcht­en, sei dies einem gemein­samen Verzicht auf das Schlich­tungsver­fahren i.S.v. Art. 199 Abs. 1 ZPO gle­ichzuset­zen (E. 5.1.2.). Dieser bewirke die (funk­tionelle) Unzuständigkeit der angerufe­nen Schlich­tungs­be­hörde. Entsprechend ist der Anwen­dungs­bere­ich von Art. 63 Abs. 1 ZPO eröffnet (E. 5.2.3.).

Der Ein­tritt der Recht­shängigkeit ist nicht von der Zuständigkeit der angerufe­nen Behörde abhängig

Der Ein­tritt der Recht­shängigkeit – und somit die Wahrung der Ver­wirkungs­frist nach Art. 533 Abs. 1 ZGB – tritt mit Ein­re­ichung des Schlich­tungs­ge­suchs oder der Klage ein (Art. 62 Abs. 1 ZPO, Art. 64 Abs. 2 ZPO). Dies gilt unab­hängig davon, ob die Ein­tretensvo­raus­set­zun­gen erfüllt sind bzw. ob die angerufene Behörde zuständig ist. Entsprechend bewirkt die Ein­re­ichung eines Schlich­tungs­ge­suchs auch bei Unzuständigkeit der Schlich­tungs­be­hörde die Recht­shängigkeit (E. 5.2.1.).

Die Recht­shängigkeit kann gemäss Art. 63 ZPO trotz Unzuständigkeit der angerufe­nen Behörde aufrechter­hal­ten wer­den, wenn die Kläger­schaft die betr­e­f­fende Eingabe inner­halb von einem Monat seit dem Rück­zug oder dem Nichtein­tretensentscheid neu ein­re­icht. Die Eingabe muss iden­tisch sein mit der ersten Eingabe, weshalb das Orig­i­nal einzure­ichen ist (5.2.2.2).

Art. 63 ZPO ist auch bei nachträglich­er Unzuständigkeit der Schlich­tungs­be­hörde anwendbar

Das Bun­des­gericht erwog, dass es über­spitzt for­mal­is­tisch wäre, die Anwen­dung von Art. 63 ZPO in Fällen zu ver­weigern, in denen die Parteien erst nach der Ein­re­ichung des Schlich­tungs­ge­suchs auf die Durch­führung der Schlich­tungsver­hand­lung verzichteten. Die ZPO räume den Parteien das Recht ein, die Zuständigkeit der Schlich­tungs­be­hörde auszuschliessen (Art. 199 Abs. 1 ZPO). Die Anwen­dung von Art. 63 ZPO dürfe fol­glich nicht mit der Begrün­dung ver­weigert wer­den, die Unzuständigkeit der Schlich­tungs­be­hörde habe nicht von vorn­here­in bestanden. Abschliessend stellte das BGer fest, dass die Anwen­dung von Art. 63 ZPO auch keinen Irrtum der kla­gen­den Partei betr­e­f­fend die Zuständigkeit der ursprünglich angerufe­nen Behörde voraus­set­ze (E. 5.2.3).

Faz­it

Im Lichte dieser Erwä­gun­gen stellte das BGer fest, dass die Kläger­schaft die Ver­wirkungs­frist von Art. 494 Abs. 3 i.V.m. Art. 533 ZGB in Anwen­dung von Art. 63 ZPO gewahrt hat­te bzw. die Recht­shängigkeit seit Ein­re­ichung des Schlich­tungs­ge­suchs vom 10. Dezem­ber 2019 bestand. Im Übri­gen habe die Schlich­tungs­be­hörde das Ver­fahren zu Recht man­gels Zuständigkeit abgeschrieben (E. 5.3.).

Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass aus Grün­den der Vor­sicht grund­sät­zlich das Orig­i­nal des Schlich­tungs­ge­suchs innert Monats­frist beim zuständi­gen Gericht einzure­ichen ist (Art. 63 Abs. 1 ZPO). Vor­liegend erachtete das erstin­stan­zliche Gericht anscheinend die Nachre­ichung des Orig­i­nals mit­tels Akten­beizug als genügend.