Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (HKÜ) ist Gegenstand des für die amtliche Sammlung vorgesehenen Urteils 5A_674/2011 vom 31. Oktober 2011. Das Bundesgericht beschäftigt sich darin mit einem Fall, in dem ein Elternteil sein Kind widerrechtlich in der Schweiz zurückhält (vgl. Art. 3 lit. a HKÜ) und damit den anderen Elternteil in der Ausübung des diesem zustehenden Aufenthaltsbestimmungsrechtes hindert (vgl. Art. 5 lit. a HKÜ).
Zum Sachverhalt: X und Y sind Eltern der ehelich geborenen Z. Die Ehe wurde in Bulgarien geschieden, wobei das Sorgerecht der Mutter übertragen wurde. Die Tochter lebte anschliessend zusammen mit ihrer Mutter in Bulgarien, der Vater blieb weiterhin in der Schweiz. Wie in den vergangenen Jahren hatten X und Y auch 2010 vereinbart, dass Z die Sommerferien bei ihrem Vater in Bern verbringen und schliesslich wieder nach Bulgarien zurückkehren würde. Indes behielt der Vater sie bei sich zurück; seither lebt sie bei ihm bzw. bei seiner Mutter und Schwester. Das zuständige Gericht ordnete auf Antrag der Kindesmutter die Rückführung von Z an. Der Vater erhob dagegen Beschwerde vor dem Bundesgericht.
Zu klären war zunächst, ob tatsächlich – wie vom Vater behauptet – eine schwerwiegende Gefahr für das Kind im Sinn von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ gegeben ist:
3.2 […] Eine solche liegt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beispielsweise bei einer Rückführung in ein Kriegs- oder Seuchengebiet vor, aber auch, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Kind nach der Rückgabe misshandelt oder missbraucht wird und nicht zu erwarten ist, dass die zuständigen Behörden des Herkunftsstaates gegen die Gefährdung erfolgreich einschreiten (vgl. Urteil 5A_764/2009 E. 4.1 m.w.H.). Keine schwerwiegende Gefahr seelischer Schädigung begründen hingegen anfängliche Sprach- und Reintegrationsschwierigkeiten, wie sie sich bei Kindern ab einem gewissen Alter mehr oder weniger zwangsläufig ergeben (BGE 130 III 530 E. 3 S. 535). Sodann ist im Rückgabeverfahren von vornherein kein Platz für Überlegungen, bei welchem Elternteil oder in welchem Land das Kind besser aufgehoben oder welcher Elternteil zur Erziehung und Betreuung des Kindes besser geeignet wäre (BGE 131 III 334 E. 5.3 S. 341; 133 III 146 E. 2.4 S. 149); der Entscheid darüber ist nach dem System des HKÜ dem Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten vorbehalten (vgl. Art. 16 und 19 HKÜ).
Vorliegend ist keine schwerwiegende Gefahr auszumachen: Die Mutter lebt in geordneten Verhältnissen, pflegt einen liebevollen Umgang mit dem Kind und bietet ihm ein angemessenes Umfeld für seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung. Es besteht ein intaktes Mutter-Kind-Verhältnis. Zudem wäre das zuständige Amt für Kindesschutz in Sofia im Fall einer Rückkehr bereit, für Mutter und Kind angemessene Unterstützungsmassnahmen in die Wege zu leiten.
Ferner berief sich der Vater auf den Willen des Kindes, in der Schweiz zu bleiben, und damit auf eine Verletzung von Art. 13 Abs. 2 HKÜ, weshalb zu prüfen war, ob die Rückgabe abgelehnt werden kann, weil sich die Tochter der Rückführung widersetzt und ihre Meinung angesichts ihres Alter und ihrer Reife zu berücksichtigen ist:
3.3 […] Das HKÜ legt keine bestimmte Alterslimite fest, ab wann ein Widersetzen des Kindes berücksichtigt werden kann. In der Lehre werden Mindestalter zwischen 10 und 14 Jahren postuliert (für Nachweise vgl. BGE 131 III 334 E. 5.2 S. 340; 133 III 146 E. 2.3 S. 148 f.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die erforderliche Reife im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HKÜ erreicht, wenn das Kind zu autonomer Willensbildung fähig ist, d.h. wenn es seine eigene Situation zu erkennen und trotz der äusseren Einflüsse eine eigene Meinung zu bilden vermag (BGE 131 III 334 E. 5.1 S. 340) und wenn es den Sinn und die Problematik des anstehenden Rückführungsentscheides im Umrissen verstehen kann, was nach der sich auf die einschlägige kinderpsychologische Literatur stützenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung ab ungefähr elf bis zwölf Jahren der Fall ist (BGE 133 III 146 E. 2.4 S. 149 f.).
In casu hat Z das massgebliche Schwellenalter erreicht, so dass der vom Kind geäusserte Wunsch in die Erwägungen einzufliessen hat: Sie hat wiederholt erwähnt, dass es ihr in der Schweiz besser als in Bulgarien gefällt. Allerdings hat das Kind nie eine klare Weigerung zur Rückkehr, sondern einfach die Bevorzugung ihrer aktuellen Lebenslage zum Ausdruck gebracht. Die Vorinstanz ging davon aus, dass die Favorisierung der Schweiz massgeblich daher rührt, dass Z seit einem Jahr unter dem Einfluss der väterlichen Familie steht und nur wenig Kontakt zur Mutter hatte. Z steht in einem Loyalitätskonflikt und will es beiden Elternteilen recht machen, indem sie sogar Kompromissvorschläge bezüglich ihres Aufenthaltswunsches unterbreitete, soweit Mutter und Vater zugegen waren. Dass ein elfjähriges Kind die aktuelle Lage bevorzugt, soweit diese einigermassen befriedigend ist, liegt in der Natur der Sache, ist aber nicht mit dem in Art. 13 Abs. 2 HKÜ angesprochenen Ausschlussgrund gleichzusetzen. Dieser setzt nämlich voraus, dass sich ein Kind einer Rückkehr im eigentlichen Sinn widersetzt und dass dies aus nachvollziehbaren Gründen geschieht, welche einen positiven Rückschluss auf eine autonome Willensbildungsfähigkeit zulassen. Für ein solches Widersetzen bestehen hier keine Anhaltspunkte.
Eine Würdigung aller Elemente führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die Versagung des Ausschlussgrundes die HKÜ nicht verletzt. Das Bundesgericht weist die Beschwerde daher ab und setzt eine neue Frist zur freiwilligen Rückführung an, die angesichts der konkreten Umstände (leicht zu organisierende Rückreise, vorhandenes und angestammtes Umfeld in Bulgarien, kürzlich begonnenes Schuljahr) eher kurz bemessen ist (drei Wochen).